Mit der Linie 4 um die Welt
Verurteilung des Nationalsozialismus gehörte. Aus dem Westen kamen Verwaltungsbeamte, die sich qua Geburtsort schon überlegen fühlten und eher Leute wie Lothar König bekämpften als die Rechten. In Clubs wie dem Winzerclub versuchte man, die rechten Jugendlichen nicht auszugrenzen, sondern von Alternativen zu überzeugen. Ob das Konzept aufging, darüber wird bis heute gestritten. Für die einen blieb die Zeit als Skinhead eine Episode der Jugend, bei anderen verfestigte sich die Ideologie. Ein rechtsextremistischer Verein wie der Thüringer Heimatschutz hat seine Wurzeln in der Zeit, als sich die Mitglieder als Jugendliche im Winzerclub anfreundeten. Der Staat sah zu. Die Eltern des Mördertrios verloren ihre Kinder. Andere fanden sie höflich, weil sie in der Wohnung OP-Überziehschuhe über die Springerstiefel zogen.
Die 4 hält hinter Burgau, wo Beate Zschäpe die Garage anmietete, in der Mundlos und Böhnhardt die Bomben gebastelt haben sollen, und sie hält auch in Alt-Lobeda. Dort befindet sich in der Jenaischen Straße ein alter Gasthof, ein Fachwerkbau, der Braunes Haus genannt wird, weil die NPD hier ihren Sitz hatte. Dass Nazis sich auf dem Grundstück aufhalten, ist nicht zu übersehen, schon von der Fußgängerbrücke, die über die Stadtautobahn führt, ist die Reichskriegsflagge zu erkennen. Der Fahnenmast ist so hoch wie der eines hochseetauglichen Seglers. Die Straße ist leer. Das Haus ist vor einiger Zeit von der Stadt wegen Baufälligkeit baupolizeilich gesperrt worden. »Fleisch und Wurstwaren«, steht am Giebel, die Schrift schon verblasst, wahrscheinlich aus den Dreißigern. Am Tor ein Schild: »Eltern haften für ihre Kinder.« Wenn das so einfach wäre. Von hier aus agierten die Unterstützer des Trios, das ohne Hilfe nicht fast vierzehn Jahre im Untergrund unerkannt überlebt hätte.
Ich laufe zur Straßenbahnhaltestelle zurück. Erst im Dezember 1997 fuhr die erste Straßenbahn nach Neu-Lobeda, Ost und West. Da hatte das Trio längst eigene Autos, das Kennzeichen von Mundlos’ altem Ford war J-AH, J für Jena und AH wie Adolf Hitler. Am 26. Januar 1998 tauchten die drei ab und legten eine beispiellose Blutspur, die nicht erkannt wurde, weil in dieser Gesellschaft grundsätzlich etwas schiefläuft. Die Opfer wurden beschuldigt, die Täter zu sein.
Vor mir hält eine 4, die Reklame für Jena macht. Vierjährige Kinder preisen die Stadt, was ihnen später, wenn sie erwachsen sind, sicher peinlich sein wird: »Ich mag Jena, weil wir uns hier wohlfühlen und weil es hier grüne Wälder und Wiesen gibt.« – »Ich wohne gerne in Jena, weil wir hier in einem großen Haus wohnen und alle Arbeit haben.« Ich steige ein; die beiden Jungs, so Mitte zwanzig, die in unterschiedlichen Sitzreihen vor mir in der 4 sitzen, haben Glatzen und offenbar denselben Tätowierer, der seine Handschrift auf den Armen hinterlassen hat, meist Spinnennetze bis zu den Handrücken, Worte, Köpfe oder Tiere darin eingewebt. Was neu ist, sind die Flesh Tunnel, Ringe, die in die Ohrlöcher eingelassen, die Ohrläppchen so weiten, dass man Papierkügelchen durch die Hohlräume werfen könnte. Eigentlich ein afrikanischer Brauch. Einer hat seinen Sohn dabei. Der macht sich Gedanken, was er mal werden will, wenn er groß ist. Im Kraftwerk will er nicht arbeiten. »Da muss man dann im Schornstein wohnen, das will ich nicht.« Dann interpretiert er die Kunst, die man im Rahmen der Stadterneuerung auf die Sockelgeschosse der Hochhäuser gemalt hat: idyllische Landschaften auf hellblauem Untergrund mit Heuballen, Apfelbäumen und Weizenfeldern, ungefähr das, was hier war, bevor das Viertel gebaut wurde. »Also, ich glaub, ich werde Apfelpflücker.« Der Vater ist in Gedanken versunken.
Am 26. Januar 1998 standen Fahnder vor der Tür der Familie Böhnhardt in einer der Plattenbauten, an denen die Straßenbahn vorbeifährt. Sie hatten den Befehl, vier Garagen zu durchsuchen, zwei an der Richard-Zimmermann-Straße in Lobeda-Ost, zwei in der Garagenanlage der Kläranlage Jena-Burgau; Uwe Böhnhardt gelang es, wegen der Unachtsamkeit der Fahnder zu fliehen und sogar noch in seiner Wohnung ein paar Sachen zusammenzupacken, weil der Staatsanwalt die landesweite Fahndung nicht genehmigt hatte – die Indizien reichten angeblich nicht aus. Ein fataler Irrtum. Beate Zschäpe erfuhr von der Durchsuchung, warnte Mundlos. Dann tauchten sie gemeinsam unter.
An der Haltestelle Lobeda-West zögere ich einen Augenblick lang mit dem
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