Mit der Linie 4 um die Welt
Aussteigen. Dass hier die Endhaltestelle ist, wie im Plan vermerkt, wird nicht durchgesagt. Die Bahn klingelt ab und fährt weiter. Eine Wendeschleife gibt es nicht. Aus der 4 im Display an der Fahrerkabine wird eine 1, die Straßenbahn nimmt Fahrt auf und lässt die Plattenbauten hinter sich. Dann folgt freies Gelände, die Kernberge im Hintergrund, rechter Hand Industrie, ein alter Gothaer Bothmann-Triebwagen kommt der Bahn entgegen. Sonderfahrt mit lustigen Leuten. Gute alte Vergangenheit. Nächste Haltestelle ist der Bahnhof Göschwitz. Hier hält nicht die 4, sondern die 1, die über Burgau und ab dort auf derselben Strecke wie die 4 zurück in die Innenstadt fährt. Die Linien 1 und 4, lese ich später, verkehren im fliegenden Wechsel. Ein schöner Vorgang für eine Straßenbahn.
Die kürzeste 4
der Welt
Kasan, Autonome Republik
Tatarstan / Russische Föderation
D er Bahnhof von Kasan steht wie ein Monolith in einer steppenartigen Landschaft. Als hätte ein fremder Großsultan Ende des neunzehnten Jahrhunderts den Kasanern eine Kathedrale zum Geschenk gemacht und sie wählen lassen, welcher Religion sie sie widmen wollten, und die Kasaner, an Religionen reich, hätten nach langen Diskussionen beschlossen, sie dem Fortschritt zu widmen, den das Eisenbahnwesen versprach. Heutzutage ist das Bahnhofsgebäude nichts als beeindruckend, zur Ankunft wird es nicht mehr genutzt. Der Zug aus Moskau hält nach vierzehn Stunden Fahrt auf Gleis 1, das nicht bis in den Bahnhof hineinreicht, am Ende des Bahnsteigs kabbeln sich die Taxifahrer um die Kunden, die mit großem Gepäck anreisen.
Auf dem Bahnhofsvorplatz, auf dessen Fläche mindestens zwei Fußballfelder Platz haben, sammeln sich die Straßenbahnen. Zwölf Linien gibt es in der Stadt. Man hört die Bahnen schon von Weitem, weil sie in den Gelenken knacken. Die Wagen sind aus Leningrader Produktion, keine ist jünger als dreißig Jahre. Sie haben an der Außenhaut keine Reklame. Irgendwelche seltsamen Kräfte müssen sie am Auseinanderfallen hindern. Manchen hat man mithilfe von Schablonen Motive aufgetragen, die an die Bordüren russischer Folklorekleider erinnern, mit denen die Mädchen der Stadt immer noch Delegationen aus fremden Ländern begrüßen.
© Annett Gröschner
An der Haltestelle am Bahnhof, wo mehrere Straßenbahnlinien ihre Fahrt durch die Stadt beginnen, stehen Frauen mit kleinen Imbisswagen. Die Coca-Cola-Schirme, die die Wagen vor der Sonne schützen sollen, sind für die Steppenwinde an der Wolga nicht gemacht. Sie haben ihr Innerstes nach außen gekehrt, die Gestänge ragen wie gebrochene Rippen in den Himmel. Die Linie 4 klingelt mit einer Glocke, die mich an meine Kindheit erinnert, und macht sich auf den Weg vorbei an einem kleinen Park, in dem Obdachlose sich an einem Feuer wärmen und etwas weiter zum Rand hin herrenlose Hunde einander ungestört und mit großem Vergnügen ficken. Eine Schaffnerin mit Bauchtasche schiebt sich durch den Wagen. Die meisten Fahrgäste haben abgestempelte Scheine, die zur Freifahrt berechtigen. Nur ich löse einen kleinen grünen Fahrschein für 5 Rubel, auf dem der Turm abgebildet ist, von dem einst eine Prinzessin sprang, die den Führer der Mongolen nicht heiraten wollte.
Entlang der Straße stehen niedrige Häuser aus Stein. Der aufwendige Stuck an der Fassade erinnert daran, dass sie einmal sehr schön gewesen sein müssen. In den meisten wohnt niemand mehr, einige sind eingestürzt. Nur die Kirchen und Moscheen erstrahlen in neuem Glanz. Die Straßenbahn hält vor dem Eingang des Basars, indem sie die Bremsklötze mit voller Wucht auf die Schienen presst. »Der Basar von K. bildet ein überaus buntes Bild«, heißt es im Brockhaus von 1895, und daran hat sich nichts geändert. Vor den Hallen werfen sich Verkäufer riesige Melonen zu. Sie sind so schwer, dass die Männer beim Auffangen in die Knie gehen müssen. Vielleicht werden so die Gewichtheber und Hammerwerfer der russischen Olympiamannschaft entdeckt.
Die Bahn ist jetzt voll älterer Frauen mit großen Einkaufstaschen, aus denen Kohl und Melone, Möhren und in Zeitungspapier Eingepacktes herausragt. In der Kasaner Straßenbahn kann es passieren, dass eine Frau sagt: »Sie kommen aus Deutschland? Ich war auch dort. Mein Mann war in Ludwigsfelde stationiert. Es war unsere schönste Zeit. Aber nun ist er tot.«
Die Straßenbahnfahrerin ist dünn und hat den Rock ihrer Straßenbahnerinnenuniform eine Handbreit über den Knien abgeschnitten und
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