Mit der Linie 4 um die Welt
verdrängt zu haben scheinen.
Vor dem Pionierpalast sind Buden aufgebaut. Es gibt Piroggen und Blini und heißen Tee mit alkoholischer Beigabe, was dazu führt, dass die Erwachsenen bald lustiger sind als die Kinder, die in ihren Arbeitsgemeinschaften beschäftigt sind, manche im Inneren des Palasts, manche basteln draußen an einer etwas abseits gelegenen Stelle eine riesige Strohpuppe, die der Hexe Baba Jaga nicht unähnlich ist. Bei Einbruch der Dunkelheit soll sie aufgeschichtet und angezündet werden als Symbol für die Vertreibung des Winters.
Die nächste Straßenbahn Richtung Innenstadt ist dann auch voller kichernder Erwachsener mit ernsten Kindern. Dabei hat man in Minsk nicht wirklich viel zu lachen. Mir scheint, die schlimmste Lebensform ist eine Diktatur, in der der Alltag, wenn auch inoffiziell, nach kapitalistischen Prinzipien funktioniert. Als mittelloser Bürger hat man nicht einmal den Trost der Freiheit.
Einer der in Westeuropa bekanntesten unabhängigen weißrussischen Künstler, Artur Klinau, hat seine Heimatstadt Minsk mit Campanellas Sonnenstaat verglichen, dieser auf den ersten Blick hellen, auf den zweiten Blick grausamen und im Ganzen höchst ambivalenten Utopie eines idealen Staats. »Ich wurde in der Sonnenstadt der Träume geboren, in der es zwei Städte gab – eine Gesellschaft des Glücks, an die man glaubte, und die Stadt selbst«, heißt es in Minsk: Sonnenstadt der Träume . »Die erste Stadt schmolz dahin, die zweite blieb als Monument des Strebens nach dem Unrealisierbaren, als grandioses Denkmal für ein erhabenes Stück mit dem Titel Glück.« An den Rückseiten dieser Stadt mit großen Palästen und breiten Straßen führt die Linie 4 entlang. Nicht weit vom Pionierpalast ist auch Artur Klinau aufgewachsen und hat als Kind mit den Schädeln Erschossener und Erschlagener gespielt, die Anfang der siebziger Jahre bei den Bauarbeiten für die Sonnenstadt überall aus dem Erdreich ans Licht kamen. Bis heute werden in Minsk menschliche Überreste gefunden, und oft weiß man nicht, wer die Täter waren, Stalins Helfer oder die Deutschen.
Die Straßenbahn fährt rechter Hand am Komsomolzengrund vorbei, einem Naherholungsgebiet mit einem großen, künstlich angelegten See. Er wurde an jenem 22. Juni 1941 eingeweiht, als die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfiel. Wenige Tage später zogen die Komsomolzen von hier aus in den Krieg. Der Rand des Parks soll mit einer Wohnanlage bebaut werden, das Fundament ist schon ausgehoben. Die Baustelle wird von einer riesigen Reklamewand umfasst, die ausgerechnet für Autos der Marke Opel wirbt.
Minsk hat fast zwei Millionen Einwohner, ein Fünftel der Einwohner des Landes. Die Stadt war viele Jahrhunderte mal die Beute der Ukraine oder Litauens, der Schweden oder Russlands, auch Napoleon besetzte die Stadt. 1444 bekam sie das Magdeburger Stadtrecht, damals das modernste, kommunale Recht in Europa, schrieb es doch die unabhängige Selbstverwaltung fest. Den Bürgern wurde die persönliche Freiheit, das Eigentumsrecht, die Unversehrtheit von Leib und Leben und die geregelte wirtschaftliche Tätigkeit garantiert, Rechte, von denen heute ein Großteil der Städter der Welt und die Minsker im Besonderen nur träumen können.
1793 kam Minsk als Ergebnis der zweiten polnischen Teilung zu Russland. Im Ersten Weltkrieg wurde Weißrussland Schlachtfeld der Ostfront, danach Schauplatz von Revolution, Bürgerkrieg und militärischen Auseinandersetzungen mit Polen. Seit 1922 war Minsk Hauptstadt der Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik und somit Teil der Sowjetunion. Die Zeit der Säuberungen beschreibt Artur Klinau in zwei Farben: »dem Schwarz der Erde und dem Rot geronnenen Blutes.« Das erinnert an ein Gemälde von Goya. Unter dem Vorwurf des belorussischen Nationalismus vernichteten Stalin und seine Helfer erst die künstlerische und technische Intelligenz, um danach auch die übrige Bevölkerung zu dezimieren. »Allein 1937 wurden in Weißrussland einhunderttausend Menschen erschossen«, ein großer Teil der Überlebenden mit fadenscheinigen oder gar keinen Begründungen nach Sibirien deportiert. »In den vierziger Jahren kam der letzte große Krieg über diesen Landstrich. Er dauerte fünf Jahre und kostete jeden Vierten das Leben«, heißt es bei Klinau.
Bis zum Einmarsch der deutschen Wehrmacht lag der Anteil der jüdischen Bevölkerung in Minsk bei dreißig Prozent. Achtzigtausend Juden wurden in einem Ghetto konzentriert,
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