Mit der Linie 4 um die Welt
dicke Frau den Namen Jens Lehmann auf eine XXL-Jogginghose bügeln, entschied sich mein Sohn für die 9, José Antonio Reyes, einen Ladenhüter. Beim Rausgehen machten wir uns ein bisschen über den kleinen zickenbärtigen Bügler lustig, der seinen Job wichtig nahm und zwischen Bügelmaschine und Kasse hin- und herstolzierte, Herr über Zahlen und Buchstaben. Wir stellten ihn uns abends in der Schlange eines Clubs oder im Pub vor, wo er, wenn er gefragt würde, was er so mache, ganz sicher damit angeben würde, Angestellter bei Arsenal zu sein. Natürlich würde er verleugnen, den ganzen Tag an der heißen Bügelmaschine zu stehen und als Teil der großen Arsenal-Maschine kleine Fans abzuzocken, die sich alle zwei Jahre neue Trikots kaufen müssen, weil das Design sich geändert oder der Sponsor gewechselt hat. Ich hätte gerne gewusst, ob der Bügler noch da ist, aber der Arsenal-Shop hat geschlossen.
Mererid erzählt von einem legendären Pub um die Ecke, der als einziger nach einem der großen Bombenangriffe auf London im Zweiten Weltkrieg stehen geblieben war und in den die Feuerwehrleute, nachdem sie vergeblich versucht hatten, die Brände zu löschen, gegangen waren. Das Arsenal-Stadion war zu der Zeit Schutzraum für Zivilisten, wurde aber auch bombardiert, die Nordtribüne musste nach dem Krieg neu errichtet werden. Sie wurde nach dem Umzug des Vereins in das neue Stadion 2006 wieder abgerissen. Nur die Osttribüne, die unter Denkmalschutz steht, hat man in die neue Wohnanlage einbezogen.
Mererid führt uns zur Finsbury-Moschee, heute North London Central Mosque, gegenüber dem Bahnhof Finsbury Park. Hier war zu Beginn der 2000er Jahre der sogenannte Hasspredigers Abu Hamza al-Masri aktiv, ein Mann mit Handkralle und Glasauge, der mit radikal-islamistischen Predigten gegen Juden und Nichtmuslime junge Männer um sich scharte, die später von Al-Qaida und anderen terroristischen Gruppen für Anschläge rekrutiert wurden. Damals soll es auch Waffenübungen in der Moschee gegeben haben. Als Abu Hamza al-Masri nicht mehr in der Moschee predigen durfte, verlegte er seine Gottesdienste auf die Straße davor. 2004 wurde er verhaftet. Mit den Londoner Anschlägen am 7. Juli 2005, als im morgendlichen Berufsverkehr vier Bomben explodierten, unter anderem in einem Bus der Linie 30 am Tavistock Square, und sechsundfünfzig Personen das Leben kostete, hatte die Moschee nichts zu tun. Es gab inzwischen einen gemäßigten Imam, die Rucksackbomber kamen aus anderen islamistischen Zusammenhängen. Wahrscheinlich gehört die Moschee zu den am besten überwachten Orten Londons. Überhaupt scheint jeder Meter auf der Strecke der 4 von Waterloo nach Archway mit Kameras bestückt, einschließlich des Busses selbst. Besichtigen dürfen wir die Moschee nicht. Wir gehen zurück zur Bushaltestelle. Hier werde ich beinahe Opfer des Linksverkehrs, zum Glück kann ich noch auf den Gehweg zurückspringen, denn diesen Tod gab es schon in der deutschen Literaturgeschichte. Rolf Dieter Brinkmann allerdings kam in London unter ein Auto und nicht unter den 4er-Bus. In seinem Gedicht Einfache Gedanken über meinen Tod, ein paar Jahre vor seinem Aufenthalt in London entstanden, schrieb er: »Er wird kommen / wie einer, der zufällig / vorübergeht und nach der Uhrzeit fragt / er wird kommen und seinen Hut lüften.« Seltsam, in einen Bus einzusteigen, der einen beinahe über den Haufen gefahren hat. Mir zittern die Knie, und wir bleiben dieses Mal unten sitzen, wo wir das Getrampel unzähliger Mädchenfüße über uns hören. Es sind Schülerinnen, die auf dem Nachhauseweg sind und auf dem Oberdeck nicht stillsitzen können.
Auf dem Weg durch die Seven Sisters Road, der Bus fährt an Telefon-, Kebabläden und kleinen Werkstätten vorbei, erzählt Steffen, der eigentlich aus Essen kommt und in London promoviert, die Geschichte von zwei Straßenbahnfahrern in Ostberlin. Der eine hatte sein Landwirtschaftsstudium abbrechen müssen, weil er Heuschnupfen bekam, und bei dem anderen war die Karriere als Interlinearübersetzer aus dem Englischen und Russischen ins Leere gelaufen, weil er sich weigerte, in die Partei einzutreten. Beide wurden Straßenbahnfahrer, damals nicht selten ein Aussteigerberuf. Und beide fuhren die Schichtstrecke nach Oberschöneweide, alte Reko-Wagen der Linie 82, die zwischen Kraftwerk Klingenberg und Wilhelminenhofstraße verkehrten. In der Frühschicht transportierten sie die schlafenden Schichtarbeiter ins Kabelwerk
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