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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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dem Hinterhof der Wohnpaläste, gleich neben dem Trolleybusdepot mit dem lyrischen Namen »Abendliches Minsk«, gibt es einen verschachtelten Flachbau, in dem sich das Café Malako befindet, mit Berliner Preisen und Besuchern, die gekleidet sind wie Twentysomethings in Friedrichshain. Hier hat die Alternativszene der Macht außerdem noch eine Galerie und einen unabhängigen Buchladen abgetrotzt. Aber keiner weiß, wie lange es das Haus geben wird. In den Minsker Stadtplänen, in denen jedes Geschäft, auch die ausländischen Ketten, mit Namen verzeichnet ist, ist es nicht aufgeführt, dafür aber bei Google Maps als eine Attraktion, wo Reisende aus westlichen Hemisphären sich wie zu Hause fühlen können. Aber nur äußerlich.
    In Minsk hat man als diktaturerfahrener Mensch permanent das Gefühl, es täte sich gleich der Boden unter den Füßen auf und verschlucke einen, und nie wieder würde man in den alten Zustand der Leichtigkeit zurückkehren. Selbst wenn der Boden tiefgefroren ist und sich gar nicht öffnen kann, so verlässt einen diese Angst nicht mehr. Eine Haltestelle vom Café Malako entfernt, hält die 4 vor einem großen Haus mit verspiegelten Scheiben, ohne Klingeln oder einem Schild an der Tür. Jeder weiß, dass hier der KGB seinen Sitz hat, der immer noch so heißt wie zu sowjetischen Zeiten und immer noch Angst und Schrecken verbreitet. Die Minsker wählen ihre Worte sehr achtsam, wenn sie mit Fremden sprechen. Einige Journalisten verschwanden in den vergangenen Jahren, einer wurde mit Dutzenden Messerstichen tot in seiner Wohnung aufgefunden.
    Weißrussland ist seit 1991 unabhängig. Eine Idee, beim Wodka besiegelt. Es ist ein riesiges Land mit nur zehn Millionen Einwohnern, ohne nennenswerte Bodenschätze, zu einem Drittel durch den Unfall von Tschernobyl verseucht, Export fast ausschließlich nach Russland oder in andere GUS-Staaten. Also muss, was an wirtschaftlicher Kraft fehlt, mit Vaterlandsliebe wettgemacht werden. Überall an den Ausfallstraßen findet man riesige Transparente, die rot aus der Schneelandschaft leuchten: »Belarus – Mein Vaterland.«
    Nach dem Besuch des Café Malako steige ich am KGB -Haus in die Straßenbahn ein und versuche, bei der Fahrerin ein Billett zu kaufen, denn das Schild »Konduktor rabotajet«, das anzeigt, dass eine Schaffnerin mitfährt, fehlt. Ich reiche der Fahrerin abgezählte 600 Rubel in das Fahrerhäuschen. Sie gibt mir keinen Fahrschein, und die Bahn fährt auch nicht los, stattdessen überschüttet sie mich mit einem Schwall harter weißrussischer Worte, die ich in der Geschwindigkeit, in der sie ausgestoßen, fast gebellt werden, nicht verstehe. Intuitiv tue ich das Richtige: Ich halte der Fahrerin einen größeren Schein hin. Sie ist zufrieden und reicht mir Fahrschein und Wechselgeld zurück. Er kostet, bei der Fahrerin erworben, 50 Rubel mehr. Sie klingelt ab. Schnee knirscht unter dem Wagenboden.
    Die Stadt ist durchzogen von großen Parks, die im Winter kaum auffallen. Im Sommer muss es hier sehr grün sein. Der schönste ist der Gorki-Park, an dem auch die 4 hält, nachdem sie eine südöstliche Kurve gefahren ist. Über die Wipfel der vereisten Bäumen ragt die obere Hälfte eines Riesenrades, das an das zur Ikone gewordene von Tschernobyl erinnert.
    Im Restaurant Astara, unweit der Haltestelle Gorki-Park, wurde ich am Abend zuvor Zeugin einer Familienfeier. Es schien eine solide Durchschnittsfamilie zu sein, mit Männern in nicht ganz billigen Anzügen, die dem Wodka zusprachen, aber zwischendurch viel aßen, damit sie nicht zu schnell betrunken wurden, mit Frauen, die sich schön gemacht hatten, süßen Wein tranken und von den Männern in die Hüften gekniffen wurden, mit Großmüttern ohne Zähne und Kindern, die die Erwachsenen mit Aufmerksamkeit nicht überschütteten, sondern die sich unbemerkt durchwuselten und bei allem dabei waren, was Abwechslung versprach. Der Raum war mit Dekorationen in allen Farben und Formen überladen, in der Mitte gab es ein riesiges Aquarium mit bunt schillernden Koi, darüber ein Fernseher, die Übertragung der Olympischen Spiele lief, Eisschnellläuferinnen drehten ihre Runden, während aus riesigen Lautsprechern die Musik von Modern Talking den Raum füllte: You’re My Heart, You’re My Soul . Alles an den Frauen der Familie wippte, eine tanzte schon auf dem Stuhl, gleich würde der Tisch dran sein, aber dann wurde eine Verschleierte in den Raum geführt, und die Frauen setzten sich wieder hin, aus

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