Mit der Linie 4 um die Welt
weißrussische, aber auch Juden aus anderen Ländern; die ersten Deportationen aus Deutschland gingen nach Riga und Minsk. Fast niemand überlebte. Die Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen Ghettos ist bis heute staatlich nicht anerkannt.
Seit der Befreiung 1945 hat Minsk den Beinamen »gorod geroi«, Heldenstadt; weithin leuchtet auf einem Hochhaus das Schild, auf dem dieser von der Sowjetunion an Städte verliehene Ehrentitel prangt. Die fast vollständig zerstörte Stadt wurde großzügig wiederaufgebaut, mit fünf Prospekten, die von den Torhäusern am Bahnhof nach Nordosten abgehen und zusammen mit den Querstraßen dem Grundriss der Innenstadt etwas Schachbrettartiges geben. »Als Kind«, schreibt Artur Klinau, »erschreckten mich die riesigen freien Flächen der Sonnenstadt. Nicht dass ich Angst vor ihnen gehabt hätte, aber sie waren von allen Seiten von einem für mich unverständlichen Gefühl der Gefahr durchweht. Vielleicht lag es an der besonderen Perspektive eines kleinen Menschen. Du spürst, dass dein Körper eine vernachlässigbare Größe auf dieser riesigen Fläche ist.« Auch die 4 führt an diesen leeren Flächen vorbei. Wenn man dort aussteigt, fällt einen sofort ein eisiger Wind an. Auch gibt es keine Haltestelleninseln, und die Ampelschaltung nimmt auf die Straßenbahnen keine Rücksicht. Es kann sein, dass die Bahn hält, während die Autos bei Grün haarscharf an den Aussteigenden vorbeirasen.
Minsk hat zehn Straßenbahnlinien, die 4 ist eine der kürzeren. Schon 1892 gab es eine Pferdestraßenbahn, die, bedingt durch Weltkrieg und Bürgerkrieg, erst 1929 elektrifiziert wurde. Bis 1984 kam die Straßenbahn die großen Straßen entlang, mit der Fertigstellung der Metro wurde sie in die Nebenstraßen verbannt. Die Prospekte, die der Architektur nach alle Stalinallee heißen könnten, sind heute frei von Gleisen. Neben Straßenbahnen und Bussen fahren seit Ende der achtziger Jahre auch die teureren Marschrutkas durch die Straßen. Sie sind das Individuellste, was Minsk zu bieten hat, und im Vergleich zu den anderen städtischen Verkehrsmitteln, deren Fahrpreis 600 Rubel, umgerechnet 24 Cents, beträgt, drei Mal so teuer. Dafür ist jeder dieser Busse ein kleines Ereignis, ein paar Haltestellen fahre ich mit einem, der bis unter die Decke mit blauem Samt ausgeschlagen ist. An den Seiten gibt es Bildschirme, auf denen Trickfilme laufen. Aus riesigen Boxen dröhnt Mugge, oft Techno und besonders oft Rammstein; die Band wird hier sehr geliebt. Ihr letztes Konzert im Jahr 2010 wurde vom Gesellschaftlichen Rat für Sittlichkeit untersagt, und die Musiker wurden zu Staatsfeinden erklärt, was ihren Ruhm in Weißrussland noch vergrößerte. Die Clubatmosphäre führt dazu, dass ich drei Haltestellen zu weit fahre.
In den Straßenbahnen der Linie 4 gibt es noch Schaffnerinnen und altmodische Klingeln, unfreundliche Fahrerinnen und alte Gleise unter rumpelnden Rädern. Der Innenraum wird mit den Körpern geheizt, es ist nicht kalt, aber zugig, wenn alle Türen gleichzeitig aufgehen, ehe es klingelt und eine Stimme aus dem Lautsprecher schnarrt: »Achtung, die Tür schließt, nächste Haltestelle …« Mir scheint, dass es immer noch dieselbe Stimme ist wie vor dreißig Jahren, als ich schon einmal in Minsk war.
Ab und an erwischt man einen hochmodernen Wagen aus staatlicher Produktion, Belkommunmash, dessen Glocke wie die der Niederflurstraßenbahnen in Berlin klingt. Neben den landeseigenen fahren auch abgelegte Straßenbahnen aus Karlsruhe oder alte Tatra-Wagen aus tschechischer Produktion auf den Gleisen. Alle Bahnen haben Leitern am Heck, damit man schnell aufs Dach zu den Stromabnehmern klettern kann. Ein Schild weist darauf hin, wie die Weste der Kontrolleure auszusehen hat: neonrot, neongelb und blau mit der Aufschrift »Minsktrans«.
Im Wagen gibt es laut Schild über dem Fahrerhaus Platz für zweihundertelf Menschen, von ihnen können dreißig sitzen. Sonntags sind nur die Sitzplätze besetzt. Ein Vater und seine Tochter lehnen selbstvergessen aneinander. Vielleicht haben sie einen Sonntagsausflug in den Pionierpalast gemacht, und das Kind muss nun zur Mutter zurück. Vielleicht ist aber auch alles ganz anders. Die beiden sprechen kein Wort miteinander.
Am Platz des Sieges, wo die 4 eine Metrolinie kreuzt, steigen fast alle aus, die seit der Endhaltestelle dazugestiegen sind, auch die lustigen Pionierhaus-Erwachsenen, Vater und Tochter und die Punkerin. Ich folge ihnen. Dort, auf
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