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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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Respekt vor der bezahlten Konkurrenz, einem Geschenk für das Geburtstagskind. Die Verschleierte entledigte sich bauchtanzend aller ihrer Hüllen, bis sie – nur noch im Bikini – zwischen Kellnern, Koi und Trinkenden ihre Hüften schwang und sich schließlich auf dem Schoß des Ältesten in der Runde niederließ, der sie aber keines Blickes würdigte, sondern die ganze Zeit auf den Bildschirm starrte, wo der Staffelwettbewerb der Eisschnellläuferinnen gerade in den Zieleinlauf ging. Die Bauchtänzerin gab auf und machte einem schlecht spielenden Vamp und einer Karaokesängerin Platz. Im Fernsehen lief jetzt Skispringen, die Frauen nippten am Weißwein. Alle blieben fröhlich und tanzten, selbst die Omis, die, aus Verlegenheit lachend, ihre zahnlosen Kiefer zeigten. Als ich nach Mitternacht aufbrach, war die letzte 4 schon weg. Ich musste durch den Gorki-Park zur U-Bahn laufen, das Riesenrad wies mir den Weg. Ein paar Nachtschwärmer aus der Disko im Park kamen mir entgegen. Am Ausgang bewegten sich riesige Schneeräummaschinen wie Roboter die Straße entlang. Der Schnee wird aus großen Rohren auf nebenherfahrende Lkw gespuckt, die ihre Last außerhalb der Stadt auf Halden abladen. Schneechaos gibt es nur in Mitteleuropa. Minsk ist eine der schneefreisten und auch saubersten Städte der Welt, immer steht eine ältere Frau mit einem Besen bereit, wegzufegen, was achtlos fallen gelassen wurde.
    Apropos Frauen: Was einen hier in Minsk verblüfft, ist die unterschiedliche Energie der Geschlechter. Die Frauen haben immer etwas zu tun. Sie stehen hinter dem Ladentisch oder sitzen hinter schlecht beleuchteten Schaltern, fegen die Straßen oder fahren die Straßenbahn. Die Männer dagegen warten, beobachten oder beaufsichtigen. Manchmal schreien sie herum oder schlagen jemanden zusammen, der die Ordnung stört, wie den Sternhagelvolltrunkenen, der pöbelnd die Hotelhalle betritt. Sie tragen Trainingshosen oder Anzüge, am häufigsten jedoch Uniformen. Die Frauen dagegen sehen immer aus, wie aus dem Ei gepellt, sitzen trotz der zweistelligen Minusgrade mit Netzstrumpfhosen in der Straßenbahn. Sie tragen Frisuren wie Paris Hilton und checken, wenn eine jüngere Frau zusteigt, mit den Augen in atemberaubender Geschwindigkeit ab, ob sie ihnen Konkurrenz machen könnte in ihrer Schönheit, Schlankheit oder Hochmütigkeit. Aber wenn die Mädchen nach durchtanzter Nacht morgens aufwachen, sind sie immer noch in Minsk, »gorod geroi«.
    Die 4 umrundet die Innenstadt mit ihren breiten Straßen im Sozialistischen Klassizismus, wie die Stalin-Bauten inzwischen genannt werden. Sie streift die Ränder, wo das Lächeln der Häuser eingefroren ist oder schon die miesmacherischen Rückseiten zeigt. Auf den flachen Dächern der Häuser schieben die Hausmeister den Schnee in die Vorgärten.
    Rechter Hand erhebt sich ein riesiges Amphitheater, das Kolosseum ist gar nichts dagegen. Es ist das Dynamo-Sportstadion. Wochentags findet um das Areal herum ein Markt statt. Am Sonntag ist es verwaist, die Zugänge zu den Rängen sind mit enormen Vorhängeschlössern versperrt, und eine einsame Frau läuft mit ihren hochhackigen Schuhen eine halbe Runde unter den Arkaden, bis sie im großen Bauch des Stadions auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Nachdem das Klacken ihrer Absätze verklungen ist, ist es gespenstisch still. Über dem Eingangstor springen drei bronzene Hürdenläufer über einen Betonsturz. Ich habe Angst, sie könnten herunterfallen und mich unter ihrer Last zerquetschen. Man würde mich erst im späten Frühjahr finden, wenn der Schnee getaut ist, gestorben an den Folgen meines Spleens, immer und überall in eine 4 zu steigen, egal, wohin sie führt. Die Stille hat etwas Bedrohliches, obwohl alles friedlich im Schnee versunken ist. Das scheint mir wie eine Metapher für die Sonnenstadt zu sein.
    Ich steige in die nächste 4. Nach zwei Haltestellen bin ich am Bahnhof, der Endhaltestelle. Die meisten der Mitfahrer werden zu Passagieren der Eisenbahn.
    Der Wartesaal des Minsk Passaschirski, des Personenbahnhofs Minsk, ist alt, das Eingangsgebäude nicht. Es ist Dutzendware aus den Endneunzigern, eher einer Shopping Mall nachempfunden, in der man verweilen soll, als einem Bahnhof, der eine schlichte Durchgangsstation ist. Hier soll man Kunde sein und nicht Passagier. Schon seit 1891 gibt es einen Bahnhof in Minsk, als hier der Kreuzungspunkt zwischen den Strecken Libava–Romensk und Moskau–Brest eingerichtet wurde. Heute fahren die

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