Mit der Linie 4 um die Welt
Oberspree und in der Spätschicht die betrunkenen Schichtarbeiter zurück nach Hause. An der Endhaltestelle warfen sie Sand über die Kotze auf dem Linoleumfußboden. Nach der Wende hörte der Sprachenmittler auf und ging nach London. Dort wurde er Softwareentwickler, während der andere bis heute in Ostberlin Straßenbahn fährt, die Strecke nach Müggelheim, wo er sich nachts mit Naziskins anlegt, die die Fahrgäste anpöbeln. Straßenbahnen mögen beide Männer noch immer. Seit 2000 gibt es im Süden Londons auch wieder eine, Tramlink genannt, die auf drei Linien die Eisenbahn- und U-Bahnstationen miteinander verbindet.
Die Häuser in der Seven Sisters Road haben schon bessere Zeiten gesehen, einige sind verlassen, kleine Fabriken in den Seitenstraßen verrammelt. Hier lebte der Held, der Musicnerd Rob Fleming mit dem schlecht laufenden Plattenladen aus Nick Hornbys Roman High Fidelity. Der Journalist Peter Watts hat in seiner Kolumne »On the Busses« in Time Out London diese Gegend im Londoner Norden als »leicht in Unordnung geratenes Viertel« bezeichnet. Die Straßen werden von Brickstone-Reihenhäusern dominiert, dreistöckig, mit bewohnten Souterrains und Gärten, die nicht größer sind als ein Badetuch. Am Ende der Strecke, am Dartmouth Park, wird es hügelig, und zwei Haltestellen lang kann man über die ganze Stadt sehen. Überall wachsen Magnolien, die Blüten liegen als weißer Teppich auf Straßen, Gehwegen und in Grünanlagen. Hier oben zeigt man an den Haltestellen mit Handzeichen an, wenn man mitfahren will. Ein Mal meldet sich jemand zu spät, und der Busfahrer legt eine Vollbremsung hin, dass die Leute, die auf dem Oberdeck ganz vorne sitzen, für einen kurzen Moment wie Fliegen an der Frontscheibe kleben.
Als wir bei Archway ankommen, sind wir eine Stunde reine Fahrzeit unterwegs gewesen. Mererid sagt, London sei nur was für junge Leute, mit Kindern solle man in ruhigere Gegenden ziehen. Zu unseren Füßen liegt die Londoner Innenstadt, die neuen Hochhäuser blinken im Licht der untergehenden Sonne.
Valentinstag
auf Belorussisch
Minsk, Weißrussland
A n der Straßenbahnendhaltestelle der Linie 4 in Osero, auf Deutsch See, steht eine junge Punkerin. Sie hat das Gesicht zur Faust geballt: »Wir haben euch was mitgebracht: Hass, Hass, Hass.« Mit ihrer schweren Lederjacke, den zerrissenen Strümpfen und den bunten Haaren, deren Spitzen wie gefroren in der Luft stehen, ist sie nicht zu unterscheiden von jenen Punkern in London oder Berlin, die ihre Klamotten nicht vorverarbeitet kaufen, sondern selbst zerreißen und bemalen. Aber sie steht hier in Minsk, der Hauptstadt von Weißrussland, an der Haltestelle, umgeben von Menschen, die sie verstohlen oder ablehnend ansehen. Zwischen der Punkerin und den Wartenden ist eine Spannung, die sich erst legt, als die Bahn in die Wendeschleife einfährt und die Leute mit dem Einsteigen beschäftigt sind.
Es ist wahrscheinlich genauso mutig, heute in Weißrussland Punk zu sein wie 1985 in Berlin, Hauptstadt der DDR .
Aus den Schornsteinen der Holzhäuser in der gegenüberliegenden Siedlung steigt kein Rauch, obwohl das Thermometer minus 10 Grad anzeigt. Die Häuser versinken unter den Schneemassen. Vielleicht wohnt schon niemand mehr hier. Überall in der Stadt verschwinden Altbauten und machen Hochhaussiedlungen Platz, errichtet von russischen Konsortien. Selbst in Minsk geht es um Rendite auf dem Immobilienmarkt, auch wenn sich die Stadt auf den ersten Blick ganz unkapitalistisch gibt.
© Annett Gröschner
Vom Alter her könnte man vermuten, die junge Punkerin, die sich in den hinteren Bereich der Straßenbahn verzogen hat, wohin ihr nur die Schaffnerin folgt, fährt zum Pionierpalast. Die Straßenbahn erreicht ihn nach drei Haltestellen. Eigentlich ist es nicht mehr der Pionierpalast, sondern der Palast der Kinder und Jugendlichen, innen aber hat sich nicht viel verändert. Es gibt immer noch die Arbeitsgemeinschaften für Theater und Tanz und die Station junger Naturforscher, in der man ungeliebte Haustiere abgeben kann. An diesem Sonntag wird hier dreierlei gefeiert: die Austreibung des Winters, der sein Weiß noch in voller Pracht über die Stadt gebreitet hat, der letzte Tag vor dem Beginn der Fastenzeit und Valentinstag, dessen Tradition nur bis in die neunziger Jahre zurückreicht und in Westeuropa für eine Erfindung der Blumeninnung gehalten wird wie der Muttertag. Ganz Minsk ist mit roten Herzen zugepflastert, die die roten Sterne
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