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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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– alle steigen vorne ein, die Türen hinten sind nur Ausgänge und von außen nicht zu öffnen. So verzögert sich der Fahrtbeginn manchmal, aber es gibt wohl keine Großstadt dieser Welt, in der das Ein- und Aussteigen so geduldig vonstattengeht wie in New York.
    Bei den Kindern berechnet sich der Preis für eine Fahrt nach der Größe. Unter vierundvierzig Inches, das sind hundertelf Zentimeter, werden Kinder in Begleitung eines zahlenden Erwachsenen kostenlos befördert. Dumm nur, wenn man als Fünfjähriger schon ein Riese ist.
    Der Weg bis zur Madison Avenue, von wo aus der Bus Richtung Norden fährt, ist nur eine Übung, die Ruhe vor dem Sturm, das Positionieren auf dem Flugfeld vor dem Start, untermalt von den langsamen Bewegungen, die Falun-Gong-Anhänger auf dem winzigen Greeley Place, der wie eine Insel im tosenden Verkehrsmeer Midtowns ist, machen. Dort verzögert sich die Weiterfahrt erneut, weil eine Lieferung aus Korea angekommen ist und erst aus dem Auto ausgeladen werden muss. Für zwei große nebeneinanderstehende Wagen ist auf der Straße kein Platz.
    An der 33. Straße Ecke Madison Avenue steht die erste Sehenswürdigkeit, interessant für all jene, die als Touristen unterwegs sind – allerdings benutzen Touristen in Manhattan bis auf die Broadwaylinie M104 nur selten Busse. Es ist das ehemalige Atelier Andy Warhols, Factory genannt, dessen Produkte die Museen dieser Welt überschwemmen: Bilder von Campbell-Dosen, Mao und Marilyn Monroe. Gebaut wurde die Factory als Edison Substation, ein Elektrizitätswerk, 31 000 Quadratmeter auf vier Etagen verteilt, viel Platz für die Kunst. Warhol blieb hier bis zu seinem Tod im Februar 1987. Heute kann man das Gebäude für Feste mieten und sich ein bisschen vorkommen wie der blasse Künstler persönlich, allerdings vor dem Schuss von Valerie Solanas.
    Das Manhattaner Einbahnstraßenwesen führt dazu, dass der Bus auf der Fahrt nordwärts zu den Cloisters durch die Madison Avenue muss, auf dem Rückweg nach Süden hin aber die berühmtere 5. Avenue nimmt, an der die Sehenswürdigkeiten wie Perlen auf einer Schnur aufgereiht sind: das Rockefeller Center, das Empire State Building, die New York Public Library. Die Madison Avenue kann mit so viel geballtem Wichtigsein nicht mithalten, sieht man vom Chrysler Building und dem Grand Central Terminal, dem Hauptbahnhof ab, der aber vom Bus aus nicht zu sehen ist. Die Madison Avenue versucht vor allem, Eleganz auszustrahlen, zumindest zwischen 42. und 80. Straße. Für die Fahrbahn gilt das nicht. In Midtown müssen die Autos mitunter elefantenkopfgroßen Schlaglöchern ausweichen. Es gibt aber eine Busspur. Autofahrer werden auf Schildern freundlich um Mithilfe gebeten, dass New York nicht stillsteht, sprich, sie sollen die Busspur nicht mit ihren Fahrzeugen versperren.
    Der Bus steht an der Ampel der 59. Straße. An der Decke des Busses kann man die Spiegelbilder der Passanten sehen, die die Straße überqueren. Sie halten Mobiltelefone ans Ohr oder sprechen beim Laufen in unsichtbare Mikros, tragen Kaffeebecher in der Hand oder hören Musik aus weißen Kopfhörern. »On a Rooftop, Manhattan / One in the morning / When you said something / That I’ve never forgotten«, singt P. J. Harvey. Was könnte es sein, das ich, an einem Morgen im Manhattan-4er-Bus, nie vergessen werde?
    Das Viertel zwischen 5. und 3. Avenue, von der 59. bis zur 78. Straße Ost, wird Gold Coast genannt. Hier gibt es die teuersten Wohnungen Manhattans, den Central Park von seiner besten Seite und die wichtigsten Museen, nicht nur der Vereinigten Staaten. Auf dem Rückweg klappert der 4er-Bus eines ums andere ab.
    Es sind meist Menschen aus der gehobenen Mittelklasse, die hier den Bus benutzen, vor allem ältere Damen in teuren Mänteln, die nicht länger als drei oder vier Haltestellen mitfahren und ihn vor allem nehmen, weil ihnen die Subway zu unsicher ist. Sie zahlen immer in bar. Zwischen der 59. und 83. Straße steigt eine ältere Frau ein, die mit ihrem Hund redet, eine Schleife in Pink kunstvoll im Fell über den Augen verknotet, der in einer rosa Einkaufstasche auf ihrem Schoß sitzt. Der Hund versucht, aus dem Korb zu springen, aber die Frau beschwichtigt ihn mit hoher Fistelstimme: »Daisy, wir bekommen Ärger, wenn du nicht in der Tasche bleibst.« Sie sprich das Wort Trouble, Ärger, als hätte sie eine große heiße Kartoffel im Mund. Der Hund versucht es noch einmal. Sie stopft ihn unsanft in den Korb zurück. »Warum tun Sie

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