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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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regulären Fahrzeiten werden Sonderfahrten mit den alten Bahnen angeboten und in diesem Frühjahr sogar ein Stück des Naumburger Theaters während einer Tramfahrt aufgeführt – Hedwig Courths-Mahlers Durch Liebe erlöst .
    Und alle zwei Minuten das unüberhörbare Klingeln, das Schnarren der Tür und das Quietschen in den Kurven. Ein Kind fragt den Fahrer: »Warum hast du kein Lenkrad?« – »Die Schienen lenken von ganz alleine.« An der nächsten Haltestelle ruft Plehn laut: »Ausstieg in Fahrtrichtung links.« Die Mutter fragt das Kind im Lehrerinnenton: »Wo ist links?« Das Kind weiß die richtige Antwort und wird vom Fahrer an den Armen aus der Bahn gehoben.
    Zwischen den Gleisen wächst Gras. Zusammen mit dem noch zarten Grün der Bäume am Stadtgraben hat die Fahrt stellenweise etwas von einer Waldbahn, wenn man nur auf die Innenstadtseite schaut. An einem Gründerzeithaus hat ein Witzbold in Höhe der zweiten Etage ein Schild mit dem Satz »Hier war Goethe« befestigt.
    An diesem Samstagnachmittag sieht Naumburg nicht nur am Bahnhof aus wie unbewohnt. Es ist kaum jemand auf der Straße, außer an den Haltestellen der Bahn. Am Marienplatz tasten sich zwei Blinde über die Straße, an der Post treten ein paar gelangweilte Jugendliche gegen ein Geländer. Eine Flaschensammlerin schaut in jeden Papierkorb. Die hohe Frequentierung der Bahn bei gleichzeitiger Menschenleere der Stadt wirkt seltsam. Zeitweise sind vierzig Leute in der Bahn und draußen niemand. Es sind nicht alles Touristen, sondern auch Einheimische, die vom Fahrer mit Handschlag begrüßt werden. Hundertfünftausend Fahrgäste hat die Bahn pro Jahr, davon sechzig Prozent Einheimische. Am Wochenende oder in der Urlaubszeit helfen manchmal Fahrer aus anderen Städten aus.
    »Mit der ›Wilden Zicke‹ zu Uta von Naumburg und Friedrich Nietzsche«, heißt es im Sound des Stadtmarketings. »Wilde Zicke« soll der Spitzname der Dampfstraßenbahn gewesen sein. Die Straßenbahn als störrisches weibliches Wesen. Mir fällt dabei der unsägliche Nietzsche-Satz »Wenn du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht« ein, und ich überlege, ob es nicht beides Produkte des damaligen Zeitgeists sind, der in Sprüchen und Spitznamen überlebt hat. Nietzsche fällt mir auch deshalb ein, weil an der Endhaltestelle Vogelwiese das Nietzsche-Haus ist.
    1892 wurde die erste Dampfstraßenbahn in Naumburg eröffnet, nachdem frühere Pferdestraßenbahnpläne an der steilen Steigung hinter dem Bahnhof gescheitert waren. Sie fuhr wie heute vom Bahnhof bis zur Vogelwiese. Dort wohnte, nur wenige Schritte von der Endhaltestelle entfernt, Franziska Nietzsche im Haus Weingarten 18, unmittelbar an der Stadtmauer. Im Mai 1890 holte sie ihren durch progressive Paralyse infolge einer nicht ausgeheilten Syphilis geistig umnachteten und körperlich gebrechlichen sechsundvierzigjährigen Sohn Friedrich zu sich und pflegte den oft Tobenden aufopfernd, bis sie 1897 starb und Nietzsches Schwester Elisabeth in Weimar die Pflege übernahm. In Briefen ist überliefert, dass Franziska Nietzsche die Straßenbahn öfter benutzte, um zum Bahnhof zu gelangen. Kann sein, dass auch Nietzsche mit ihr gefahren ist. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich aber rapide, und er fiel in der Öffentlichkeit durch wildes Gestikulieren auf, sodass die Mutter mit ihm schließlich nur noch in den Stadtwald gehen konnte, wo ihnen wenige Leute begegneten, man redete viel in so einer kleinen Stadt. Schließlich verließ er das Haus gar nicht mehr. Von der Veranda, die die Mutter eigens für ihren Sohn hatte erweitern lassen, konnte er die Straßenbahn beobachten, die bei ungünstigen Windverhältnissen Rauch und Ruß herüberwehte. Sieben Jahre nach Nietzsches Tod, 1907, wurde die Dampfstraßenbahn durch eine Elektrische ersetzt, die ab 1914 im Abstand von zehn Minuten als Ringbahnlinie 1 und 2 zweigleisig verkehrte.
    Nach drei Runden mit der Straßenbahn steige ich am Nietzsche-Haus aus. Auf dem Grundstück daneben gibt es seit 2010 ein Dokumentationszentrum in einem schönen luftigen Betonbau, in dessen Glasflächen sich der Himmel spiegelt. Leider ist es seit zehn Minuten geschlossen. Vor dem Haus findet ein Kinderfest mit Kuchenbasar und Liedermacher statt. Die wenigen Kleinen sind auf die Bühne gehüpft und bedrängen den Sänger, der aber stoisch seine Mugge durchzieht. Die Eltern stehen unbeteiligt daneben bei Bier und Rostbratwurst. Bunte Wimpel sind vom Nietzsche-Haus zur Stadtmauer

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