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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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dreißiger Jahren kamen die deutschen Juden. Sie waren so zahlreich, dass die Gegend den etwas zweifelhaften Spitznamen »Viertes Reich« bekam. Der berühmteste Bewohner war Henry Kissinger, in den siebziger Jahren Außenminister der USA . Heute wird die Gegend von Puerto Ricanern und Emigranten aus der Dominikanischen Republik beherrscht. Sie haben die alten Geschäfte übernommen und neue Schilder angeschraubt. Die meisten sind nun spanisch beschriftet. Manhattan erfindet sich immer wieder neu. »Welcome to USA «, steht auf einem Plakat in der 158. Straße. »Everything 99 ct.« – »And more«, hat jemand mit Kugelschreiber unter das Plakat gekritzelt. Die Häuserblöcke erinnern an Gründerzeitviertel in ostdeutschen Städten vor der Wiedervereinigung. Die der Nordseite zugewandten Fenster sind in den unteren Etagen ohne Licht, statt der Balkone gibt es Feuerleitern. Auf manchen Dächern stehen verrostete Wassertanks. Hier hätte man sich die alte Heimat simulieren können, wenn sie nicht für immer verloren gewesen wäre.
    Fünf Minuten später ist der Bus an der George-Washington-Brücke, die über den breiten Hudson River führt und von der Le Corbusier 1947 behauptete, dass sie mit ihren zwei Türmen und der Aluminiumfarbe die schönste Brücke der Welt sei und die einzige über den breiten Hudson. »Ihre Struktur ist so klar, so resolut, so ebenmäßig, dass die Stahlarchitektur zu lachen scheint.«
    Unter der Zufahrt zur Brücke gibt es immer noch den Imbiss, der in Uwe Johnsons Roman Jahrestage Erwähnung findet. Der Busbahnhof, an dem die Hauptfigur Gesine ihre Tochter Marie im Sommer 1967 abholt, ist auf einem Hochplateau hinter großen Schallschutzwänden versteckt. In der Schlange des Imbisses steht ein hispanisches Hochzeitspaar mit ihren Trauzeugen und wartet auf den Hochzeitsschmaus – einen Hotdog mit Sauerkraut. Die Schleppe des Hochzeitskleides fegt den schmutzigen Boden. Es wird im Rücken von einer Wäscheklammer zusammengehalten. Der Bräutigam trägt einen Anzug, der zwei Nummern zu klein ist. Sie sehen glücklich aus.
    An der 165. Straße verlässt der Bus den Broadway und fährt in die Fort Washington Avenue. Rechts und links der Straße erstreckt sich das Columbia Presbyterian Medical Center, wo ähnlich der Charité in Berlin Medizinforschung mit Krankenhausalltag verbunden wird. Dort, im neurologischen und psychiatrischen Institut, wird ein Teil von Freuds Privatbibliothek aufbewahrt.
    An der nächsten Haltestelle befindet sich das Herbert Irving Comprehensive Cancer Center, ein Krebszentrum, vor dem Leute mit bemützten oder mit Tüchern umwickelten Köpfen in Bademänteln stehen und rauchen.
    Eine alte Frau in Wanderschuhen steigt in den Bus und versucht, sich an der Fahrerin und ihrem Automaten vorbeizuschummeln. Aber die fordert sie mit sehr resoluter Stimme auf, ihren Fahrschein in den Kasten zu stecken. Sie versucht es mit einem Ticket, das nicht mehr gültig ist, was der Automat mit einem sehr bösen Geräusch quittiert. Also kratzt sie sehr langsam zwei Dollar zusammen und flucht dabei vor sich hin. Der Bus steht so lange. Als sie sich nach hinten begibt, sieht man, dass an ihrem Handgelenk ihr Hausschlüssel baumelt.
    Die Linie 4 führt durch die Stadtviertel mit den wenigsten Starbucks-Filialen. In Midtown und der Upper East Side ist Starbucks zu billig und hier, in den Vierteln im Norden, zu teuer. Es sind nur noch wenige Stationen bis zur Endhaltestelle. Der Bus erreicht gerade den höchsten natürlichen Punkt von Manhattan, Teil der sagenhaften Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. Während des Unabhängigkeitskriegs in Nordamerika verteidigten die Truppen um George Washington im November 1776 New York gegen die militärisch überlegenen Briten und Hessen. Die Verteidiger errichteten Fort Washington auf Manhattaner und Fort Lee auf der gegenüberliegenden Seite des Hudson River, in New Jersey, um die Briten an der Überquerung des Flusses zu hindern und bei einer drohenden Niederlage, mit der Washington rechnen musste, einen sicheren Fluchtweg zu haben.
    An dem Kampf nahm Margaret Corbin als erste Soldatin der amerikanischen Armee teil, allerdings eher unfreiwillig. Verheiratet mit John Corbin, dem Befehlshaber der Ersten Kompanie der Pennsylvania Artillery, säuberte, lud und feuerte sie die Kanone ihres Mannes ab, nachdem er bei der Verteidigung des Fort Washington getötet worden war. Sie überlebte den Kampf stark verwundet und verlor einen Arm. Ihr Einsatz

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