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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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der Campus der Columbia-Universität mit den angrenzenden Wohnstraßen für die Angestellten der Universität. Hier am Morningside Drive ist der Dichter Franz Jung spazieren gegangen, Ende der vierziger Jahre, als er ein Nachbar von Eva und Miki Marcu war, die in einem der Häuser an der Universität wohnten, wo Eva Marcu eine Zeit lang als Dozentin arbeitete, um den Lebensunterhalt für ihre kleine Familie zu verdienen. Nach Deutschland wollte sie nie wieder zurück. Franz Jung dagegen konnte sich an Amerika nie gewöhnen, er ist in Deutschland gestorben. »Students and residents populate the streets«, sagt der Architekturführer und rät zum Spazierengehen, da hier Studenten und die Bewohner des Stadtviertels auf der Straße anzutreffen seien, während sich wegen der Distanzen zwischen Harlems Sehenswürdigkeiten doch eher ein Auto eignen würde. Das kann man interpretieren, wie man will.
    Der Bus fährt an der Kathedrale Saint John the Divine vorbei. Sollte die 1892 als neuromanisch-neubyzantinische, später neugotisch weiterentwickelte protestantische Episkopalkirche je fertig werden, wäre sie die größte der Welt. Im Moment ist sie nur die zweitgrößte nach dem Petersdom in Rom.
    Am Cathedral Parkway Ecke Broadway fängt ein dunkelhäutiger Mann mit weißen Haaren leise an zu predigen. Bis eben hatte er sich ganz normal mit der Frau vor sich unterhalten, die dadurch auffiel, dass sie mit sehr dünnen Nadeln und sehr weißer Wolle strickte und man Angst haben musste, die Nadeln bohrten sich bei einer Vollbremsung in ihre großen Brüste. Nach und nach wird seine Stimme lauter, er ruft die Apostel an, mahnt die Lebenden. Niemand nimmt Notiz von ihm. Die Frau strickt stoisch weiter und lächelt in ihre Maschen. »The bus is moving can’t stop.« Er steigert sich so in seine Predigt hinein, dass man meinen möchte, die Apokalypse fege in den nächsten Sekunden über den Bus hinweg. Der hält dann aber doch an der Columbia-Universität und schicke Studentinnen mit Laptoptaschen und blasse Studenten mit mickrigen Kinnbärten verlassen die rollende Kirche. Man kann mit aussteigen und die Gebäude auf dem Campus bewundern, ein Potpourri der europäischen Architekturgeschichte, nur gewaltiger als irgendwo in Europa. Rechts und links des Broadway sind die Ladenlokale ganz auf die Bedürfnisse der Studenten und Dozenten ausgerichtet, es gibt Copy Shops, Schreibwaren und Buchläden sowie eine reichliche Anzahl von Cafés. Im West End Café saßen einst William S. Burroughs, Jack Kerouac und Allen Ginsberg und trieben produktiven Drogenmissbrauch. Heute ist die amerikanische Literatur nahezu drogenfrei, das Rauchen ist streng verboten und Alkohol genauso wenig gern gesehen wie all die anderen Drogen. Mit dem nächsten 4er-Bus verlasse ich die Uni-Welt wieder.
    Hinter dem Universitätsgelände kommt die Subway aus ihrem Schacht und wird an der 122. Straße zur Hochbahn, denn wider Erwarten ist Manhattan hügelig und in weiten Teilen auf Fels gebaut. An dieser Stelle liegt ein Tal zwischen Morningside und Hamilton Heights, Manhattanville genannt, das die Subway der Linie 1 mithilfe eines Viadukts überbrückt. Es ist aus Stahl mit vielen Nieten und Verstrebungen, was dem Bauwerk etwas Verspieltes gibt und an den Eiffelturm erinnert. Zu genau möchte man aber nicht hinschauen, es sieht arg verrostet aus. Rechts und links der Straße findet man noch die Zeichen der frühen Industrialisierung, als es hier Lackfabriken, Brauereien und Mühlen gab. In Richtung Hudson liegen Lagerhäuser, die gerade renoviert werden.
    An der Ampel der 125. Straße kommt unser Bus neben einem M104er zu stehen, der, vom Gebäude der Vereinten Nationen kommend, den Broadway hochfährt. Die beiden Busfahrer unterhalten sich bei geöffneten Türen angeregt, ehe ein Hupen sie darauf aufmerksam macht, dass es längst Grün ist.
    Zwölf Blöcke weiter verschwindet die Subway wieder unter der Erde und mit ihr auch die Lagerhallen rechts und links des Broadway. Ich bin die einzige Weiße im Bus. Wir erreichen Washington Heights, ein Viertel, das im Süden von dem Friedhof der Trinity Church an der 155. Straße begrenzt wird. 1811 glaubten die Stadtväter, dass New York an dieser Stelle niemals weiterwachsen würde. Es kam anders. Das Viertel war immer ein Hafen für Einwanderer verschiedenster Nationalitäten. Wenn man zu Wohlstand kam, verließ man es wieder. Als Erstes siedelten hier die Iren. Sie wurden verdrängt von Griechen und Armeniern. In den

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