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Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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gespannt. Ich glaube, dass Nietzsche die Kinder mit trockenem Vogelkot beworfen hätte. Ich setze mich zu ihnen auf eine der Bierbänke und vertreibe mir die Zeit bis zur nächsten Straßenbahn. Als sie kommt, kann ich es am Quietschen hören. Das mit der 4 als einziger Linie hat sich bei der Rückfahrt dann auch geklärt. 1, 2 und 3 sind Busse.

Manhattan M4 Mystery
    New York,
Vereinigte Staaten
von Amerika
    A ls wir am nächsten Morgen, in einer Caféteria nahe dem Pennsylvania-Bahnhof, miteinander frühstückten, sah er verwüstet aus. Sein Gesicht war grau, und um die tragischen Augen hatten sich die dunklen Schatten vertieft. ›Ich habe die ganze Nacht wach gelegen …‹, sagte er mir. Dann sprachen wir über die Nachrichten in der Morgenzeitung. Ich merkte, dass es Toller nicht leicht fiel, seine Gedanken zu kontrollieren, und dass ein Lächeln, zu dem er seine Züge manchmal zwang, ihm sehr wehe tat. Wir trennten uns an einer Station der Subway.« Es war das letzte Mal, dass Klaus Mann seinem Freund Ernst Toller gegenüberstand. Am 22. Mai 1939 fand ihn seine Sekretärin im Bad seines Apartments im Mayflower-Hotel nahe dem Columbus Circle in Manhattan. Ernst Toller hatte sich erhängt. Es ist so einfach, ein unglücklicher Emigrant in New York zu sein. Was ist mit dem Mann, der unschlüssig neben dem Strumpfgeschäft steht? Oder die Frau, die nach Verlassensein riecht, die verschlissene Tasche über der Schulter, das Kleid viel zu dünn für die Jahreszeit? Sie tritt aus der unterirdischen Penn Station auf die Straße und hastet vorbei an drei gelangweilten Uniformierten, die nach Terroristen Ausschau halten. Seit gefühlten Ewigkeiten gilt der Code Orange, fünf Minuten vor der Angst. Die Frau rennt auf die Kreuzung 7. Avenue / 32. Straße zu. Die Ampel blinkt mit ihrer weißen Hand, die Frau kommt bis über die Straßenmitte hinweg, dann fallen die Autos über sie her. Nur mit einem Riesensprung kann sie sich auf den Bürgersteig retten und verschwindet im Gewühl.

© Annett Gröschner

Die 32. Straße ist eine schmale Schlucht, die nach Westen von dem riesigen Gebäude des sich über zwei Blocks ziehenden Madison Square Garden unterbrochen wird. Ich bin in Midtown, im ehemaligen Kleiderviertel, so genannt, weil sich in den zwanziger Jahren hier die Textilindustrie angesiedelt hatte. Heute gehört die 32. Straße zwischen der 7. und der 5. Avenue den Koreanern, die hinter Schaufensterscheiben Billigstrümpfe ordnen oder Nudelteig schneiden. Das Essen in Manhattan, hatte Eva Marcu gesagt, als ich sie 2002 das erste Mal in Manhattan besuchte, sei erst besser geworden, als Anfang der fünfziger Jahre die Koreaner kamen. Sie war mit ihrem Mann Valeriu und ihrer Tochter Miki 1941 nach achtjähriger Odyssee nach New York gekommen, kurz nachdem Klaus Mann seinen ersten Selbstmordversuch hinter sich hatte, wegen anhaltender Erfolglosigkeit. Sie kannten sich gut. Valeriu Marcu starb noch vor Klaus Mann, Ende Dezember 1942, an einem Herzinfarkt.
    In der 32. Straße hat die Buslinie M4 ihre Endhaltestelle.
    Mit dem M4 braucht man von der 32. Straße zu den Cloisters, auf Deutsch Kloster, einem Mittelaltermuseum am Fort Tryon Park im äußersten Norden von Manhattan, hundertzwanzig Minuten – zumindest mit dem Local Bus in der Rushhour, mit dem Limited Stop schafft man es in hundert Minuten. Siebzehn Kilometer Weg längs durch Manhattan sind es bis zu den Washington Heights in Höhe der 204. Straße. Dazwischen liegen im wahrsten Sinne des Worts Welten, Menschen jeden Alters, jeder Hautfarbe und Gestalt rücken hier wie in einer Nussschale auf engstem Raum zusammen.
    Als Erstes aber gilt: Don’t run for the bus – Nicht zum Bus rennen, Paragraf 1 der Beförderungsbestimmungen der Manhattaner MTA Bus Company. Der M4 fährt in den Haltestellenbereich ein, und die Wartenden bilden eine fast ordentliche Schlange vor der Eingangstür. Ich reihe mich ein. Die Busfahrerin ist eine junge Afroamerikanerin mit kunstvoller Frisur, die hinter dem riesigen Lenkrad fast klein wirkt. Sie schaut die Zusteigenden nur flüchtig an und grüßt mit einem »Hello«, das unverbindlich, aber freundlich ist. Bezahlt wird die Fahrt mit einer Metrocard, die einen Tag, eine Woche oder einen Monat lang gültig sein kann, oder mit 2 Dollar in abgezählten Münzen, die in einen Automaten gesteckt werden. Ein penetranter Ton zeigt die Rechtmäßigkeit des Eintritts an. Es gibt kein Wechselgeld und keinen Fahrschein, also auch keine Kontrollen

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