Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mit der Linie 4 um die Welt

Mit der Linie 4 um die Welt

Titel: Mit der Linie 4 um die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
Vom Netzwerk:
– Westler kommt, säuselt, saugt aus und verschwindet –, sondern ein Märchen. Es erzählt den Traum von ein paar Naumburger Jungen, dass eines Tages ihre Straßenbahn wieder fahren könnte. Erfüllt wird er schließlich von einem reichen Mann mit Leipziger Wurzeln, der sein Geld im Westen gemacht hat. 1991 war nämlich die Straßenbahn in Naumburg nach neunundneunzig Jahren abgeschafft worden, nachdem über viele Jahre Netz und Betrieb schon ausgedünnt worden waren und es mehrmals zu monatelangen Betriebsunterbrechungen gekommen war.
    Das erzählt mir der Fahrer der Bahn, Andreas Plehn, der zu jenen Jungen gehört hat und heute einer der Geschäftsführer der Naumburger Straßenbahngesellschaft mbH ist, auf dem Weg zwischen Hauptbahnhof und Vogelwiese. Acht Haltestellen oder zweieinhalb Kilometer lang ist die Strecke, zehn Minuten dauert die Fahrt. Seit 2007 fährt die 4 mit Sondergenehmigung als eine historische Bahn im Regelbetrieb. Für diese Konstellation musste extra das ÖPNV -Gesetz von Sachsen-Anhalt geändert werden, denn allein aus dem Erlös der Fahrscheine trägt sich das Unternehmen nicht, das acht Mitarbeiter bezahlt. Für große Jungen ist eine echte Straßenbahn viel besser als eine Modelleisen- oder Carrera-Bahn, und es kommen einige, vor allem männliche Touristen, nur wegen ihr und nicht wegen Nietzsche oder Uta nach Naumburg, um dann mit einer Tageskarte für 4 Euro den ganzen Tag hin- und herzufahren. Man kann vorne beim Fahrer stehen und das Armaturenbrett mit den altmodischen Knöpfen und Schaltern bewundern, unter denen Schildchen mit Worten wie »Spiegelheizung«, »Fahrerraum«, »Scheibenwischer« angeschraubt sind. An jeder Haltestelle öffnet Plehn seine alte Schaffnertasche und kassiert persönlich das Geld für einen Fahrschein. Älteren und gebrechlichen Personen hilft er in die Bahn und fasst auch mit an, wenn ein Kinderwagen rein- oder rausgetragen werden muss.
    »Einzige Ringbahn Europas«, heißt es im ausliegenden Faltblatt. Ich weiß nicht, ob es nicht doch irgendwo in Europa noch eine Straßenbahn-Ringlinie gibt. In einer autonomen russischen Republik vielleicht, auf dem Balkan oder irgendwo in Skandinavien. Eine habe ich in Istanbul gefunden, die wie die Naumburger mit alten Gothaer Straßenbahnen befahren wird. Nur fährt sie auf der asiatischen Seite der Stadt. Aber auch die Naumburger Ringbahn ist vorerst noch ein Traum, die Strecke beschreibt nur einen Halbkreis um die Altstadt, bald kommt eine neue Station dazu, die den Ring aber auch noch nicht schließt. Der Platz für den Haltestellennamen ist auf dem Richtungsschild am Fenster freigelassen worden. Ein kleiner Abstecher um den Markt herum, wo zum Teil noch die Schienen zwischen den Pflastersteinen liegen, ist erträumt. Von dort ist es nicht mehr weit bis zum Dom, wo der Künstler Neo Rauch die heilige Elisabeth bei der Arbeit zeigt und die berühmte Uta ihren skeptischen Blick vom Sockel im Westchor wirft. Jedes Mal wenn ich sie sehe, wundert mich, warum Uta diesen grobschlächtigen Ekkehard zum Ehemann hatte. Sie sieht zu selbstständig aus, als dass sie eine arrangierte Ehe zugelassen hätte, während ihr feister, selbstzufriedener Mann nur durch Schild und Schwert zusammengehalten wird. Und auch heute bin ich wieder verwundert, dass sie in großer Höhe steht und eine Betrachtung von Angesicht zu Angesicht nur auf Abbildungen möglich ist. Aber in den Dom gehe ich erst nach meiner Fahrt.
    Die Straßenbahn ist eine alte Gothaer T57. Triebwagen TW38 fuhr wie die Istanbuler Bahnen früher mal in Jena. Eine Kurbel hat die Bahn nicht mehr, aber einen Schaltknüppel, lang wie ein Spazierstock. Er macht bei jeder Bewegung ein ruckartiges Geräusch, das sich durch den Wagen fortbewegt und bei mir an jeder Haltestelle das Gefühl auslöst, ich müsste mich leichter machen oder beim Anschieben helfen, aber das ist ein Trugschluss. Vor und unter uns tut eine Maschine zuverlässig ihre Arbeit, wahrscheinlich stecken viele Stunden unbezahlter Arbeit darin, so einen Wagen zu warten oder neu aufzubauen, wie den Lindner-Triebwagen 17, für dessen Herrichtung die Nahverkehrsfreunde Naumburg-Jena e.V. in der Straßenbahn und im Internet um Spenden bitten. Man kann, wenn einem langweilig ist, das Naumburger Tageblatt lesen, das am Fenster hängt. Am Marientor fährt die Bahn am Depot vorbei, wo noch etliche andere alte Straßenbahnen warten, nicht nur die Gothaer, auch ein LOWA ist im offenen Depot abgestellt. Außerhalb der

Weitere Kostenlose Bücher