Mit dir an meiner Seite
geliefert wird, wenn die Renovierungsarbeiten abgeschlossen sind. Das heißt, er dürfte noch gar nicht hier stehen. Pastor Harris hofft, dass er jemanden findet, der das gute Stück eine Weile bei sich aufnimmt. Aber weil nicht absehbar ist, wie lange sich die Baumaßnahmen noch hinziehen, stehen die Chancen nicht besonders gut.« Er drehte sich zur Eingangstür um und schien verblüfft, dass es schon dunkel war. »Wie spät ist es denn?«
»Kurz nach neun.«
»Ach, du liebe Zeit!« Er erhob sich vorsichtig. »Ich habe gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergeht. Dabei habe ich Jonah versprochen, dass ich heute mit ihm im Freien übernachte. Und er braucht ja auch sein Abendessen.«
»Darum habe ich mich schon gekümmert.«
Dad lächelte ihr dankbar zu. Als er seine Noten einsammelte und das Licht löschte, erschrak Ronnie, weil er so müde und zerbrechlich aussah.
Kapitel 25
Steve
Ronnie hatte recht, dachte er. Das Stück war eindeutig modern.
Er hatte nicht gelogen, als er sagte, dass es am Anfang anders war. In der ersten Woche hatte er sich an Schumann orientiert, danach hatte er sich eher von Grieg inspiriert gefühlt. Als Nächstes war ihm vor allem Saint-Saens in den Sinn gekommen. Aber nichts hatte sich richtig angefühlt. Die tiefe Emotion, die er bei den ersten Noten empfunden hatte, bekam er nicht zu fassen.
In der Vergangenheit hatte er immer eine Musik schaffen wollen, die viele Generationen überdauern würde. So hatte er es sich in seiner Fantasie ausgemalt. Diesmal war es anders. Er experimentierte, er versuchte, die Töne einfach kommen zu lassen. Nach und nach begriff er, dass er aufhören wollte, den großen Komponisten nachzueifern. Endlich hatte er den Mut, sich selbst zu vertrauen. Noch waren seine Versuche nicht wirklich von Erfolg gekrönt, und er wusste auch, dass die Komposition in sich nicht stimmig war und vielleicht nie perfekt sein würde, aber er fand das in Ordnung.
Vielleicht war das schon immer sein Problem gewesen - dass er sich sein Leben lang bemüht hatte, etwas nachzuahmen, das für andere richtig sein mochte, aber nicht für ihn. Er spielte Kompositionen, die von anderen vor vielen Jahrhunderten geschrieben worden waren, er suchte Gott, indem er am Strand spazieren ging, weil das für Pastor Harris der passende Weg war. Hier und jetzt -während er mit seinem Sohn auf einer Düne hinter seinem Haus saß und durch ein Fernglas starrte, obwohl er vermutlich gar nichts sehen würde - stellte er sich eine ganz entscheidende Frage: Tat er das alles, weil er dachte, die anderen wüssten die Antwort - oder weil er es nicht wagte, sich auf seine eigene Intuition zu verlassen? Waren seine Lehrer eine Krücke geworden? Hatte er letzten Endes Angst davor, er selbst zu sein?
»Dad?«
»Ja, Jonah?«
»Besuchst du uns in New York?« »Sehr gern.«
»Ich glaube nämlich, dass Ronnie jetzt mit dir reden würde.«
»Das hoffe ich auch.«
»Sie hat sich verändert, findest du nicht?«
Steve legte sein Fernglas weg. »Ich glaube, in diesem Sommer haben wir uns alle sehr verändert.«
»Stimmt. Ich bin zum Beispiel ziemlich gewachsen.«
»Allerdings. Und außerdem hast du gelernt, wie man ein Buntglasfenster macht.«
Jonah schwieg für einen Augenblick, dann setzte er noch einmal an. »Dad?«
»Ja?«
»Ich glaube, ich würde gern Kopfstand lernen.«
Steve wusste nicht recht, wie er reagieren wollte. Wo kam das nun wieder her? »Darf ich fragen, warum?«
»Ich stehe einfach gern auf dem Kopf. Warum, weiß ich auch nicht. Aber du musst meine Beine festhalten. Wenigstens am Anfang.«
»Das mache ich.«
Danach schwiegen sie beide. Es war eine laue Sternennacht. Wie schön die Welt doch war, dachte Steve, erfüllt von einem Gefühl großer Zufriedenheit. Der Sommer mit den Kindern war noch viel beglückender gewesen, als er zu hoffen gewagt hatte, und nun hockte er mit seinem Sohn auf der Düne und redete über Kopfstand. Er hatte sich an dieses gemeinsame Leben gewöhnt, und bei dem Gedanken, dass es bald zu Ende sein würde, bekam er fast Beklemmungen.
»Dad, es ist langweilig hier draußen.«
»Ich finde es friedlich«, erwiderte Steve.
»Ich kann nichts sehen.«
»Du kannst die Sterne sehen. Und du hörst die Wellen.« »Die höre ich doch die ganze Zeit. Sie klingen immer gleich.«
»Warm möchtest du denn anfangen, den Kopfstand zu üben?«
»Vielleicht morgen.«
Steve legte den Arm um seinen Sohn. »Du hörst dich irgendwie traurig an. Was ist
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