Mit dir an meiner Seite
seit der Entstehung der Erde zum Ozean gehörte. Unter anderen Bedingungen hätte Ronnie dies als Trost empfunden, doch im Moment erschien ihr der Geruch so fremd wie alles andere.
Zuerst Blaze. Dann Marcus. Waren alle Leute hier verrückt?
Mit dem Typ stimmte doch etwas nicht! Vielleicht nicht im klinischen Sinn - er war intelligent, aber soweit Ronnie das beurteilen konnte, fehlte ihm jedes Mitgefühl. Er gehörte zu den Menschen, die völlig egozentrisch nur an sich selbst dachten, an die eigenen Wünsche und Bedürfnisse. Letzten Herbst musste jeder in ihrer Klasse im Englischunterricht einen Roman eines zeitgenössischen Autors vorstellen, und Ronnie hatte sich für
Das Schweigen der Lämmer
entschieden. Beim Lesen war ihr klar geworden, dass die Hauptperson, Hannibal Lecter, gar kein Psychopath war, sondern ein Soziopath. Erst da hatte sie gelernt, dass es zwischen den beiden Begriffen einen Unterschied gab. Marcus war zwar kein mordender Menschenfresser, aber Ronnie hatte den Eindruck, dass er mit Hannibal mehr gemeinsam hatte, als man auf den ersten Blick dachte. Die Art der beiden, die Welt und ihre eigene Rolle darin zu sehen, ähnelte sich ziemlich.
Aber Blaze ... sie war doch nur ...
Ronnie konnte es gar nicht so genau sagen. Auf jeden Fall ließ sich Blaze von ihren Gefühlen leiten. Wütend war sie. Wütend und eifersüchtig. Aber an dem Tag, den sie gemeinsam verbrachten, hatte Ronnie nie das Gefühl gehabt, dass mit ihr etwas nicht stimmte, außer dass sie emotional sehr labil war, unreif und ein Opfer ihrer Hormone. Sie wirkte wie ein Tornado, der eine Spur der Vernichtung hinterließ.
Seufzend fuhr sich Ronnie durch die Haare. Sie hatte keine Lust, ins Haus zu gehen. In ihrem Kopf konnte sie das Gespräch mit Dad vorwegnehmen.
Hallo, Schatz, wie war's?
Ach, es ist schiefgegangen. Blaze steht total unter dem Einfluss eines Jungen, der ein manipulativer Soziopath ist. Das Heißt, ich muss ins Gefängnis. Übrigens - der Soziopath hat nicht nur beschlossen, dass er mit mir schlafen will, nein, er verfolgt mich und hat mich fast zu Tode erschreckt. Und wie war dein Tag?
Nicht gerade eine entspannte Konversation nach dem Abendessen. Aber es war die Wahrheit.
Ach, vielleicht sollte sie sich lieber ein wenig verstellen. Sie erhob sich und ging zur Haustür.
Ihr Vater saß auf dem Sofa, die Bibel aufgeschlagen auf dem Schoß. Das Buch hatte sehr viele Eselsohren. Als Ronnie hereinkam, klappte er es zu.
»Hallo, Schatz, wie war's?«
Hatte sie recht gehabt oder nicht?
Sie zwang sich zu einem Lächeln und versuchte, so locker wie möglich zu antworten: »Ich hatte keine Chance, mit ihr zu reden.«
Es fiel ihr schwer, sich normal zu verhalten, aber irgendwie schaffte sie es. Ihr Vater nahm sie mit in die Küche, weil er wieder ein Nudelgericht gekocht hatte - Tomaten, Auberginen, Kürbis und Zucchini mit Penne. Sie aßen in der Küche, während Jonah aus Legosteinen einen Star-Wars-Wachposten baute. Pastor Harris hatte ihm die Packung geschenkt, als er am Nachmittag vorbeigekommen war, um Hallo zu sagen.
Danach gingen sie alle ins Wohnzimmer. Und weil Dad spürte, dass Ronnie keine Lust hatte, sich zu unterhalten, vertiefte er sich wieder in die Bibel, während seine Tochter Anna Karinina las. Der Roman gefiel ihr, aber sie konnte sich nicht richtig konzentrieren. Nicht nur wegen Blaze und Marcus, sondern auch, weil ihr Vater die Bibel las. Das kannte sie gar nicht von ihm. Oder hatte er das früher auch schon getan, und sie hatte es nur nicht mitbekommen?
Jonah war mit seiner Lego-Konstruktion fertig und verkündete, er gehe jetzt ins Bett. Ronnie wartete noch eine Weile, bis sie ihm folgte. Sie hoffte, dass er schon schlief, wenn sie kam. Schließlich legte sie ihr Buch beiseite und stand auf.
»Gute Nacht, Schatz«, sagte Dad. »Ich weiß, es ist nicht leicht für dich, aber ich freue mich sehr, dass du hier bist.«
Sie zögerte für einen Moment, dann ging sie zu ihm und küsste ihn auf die Wange - das erste Mal seit drei Jahren. »Gute Nacht, Dad.«
Ronnie machte kein Licht an, sondern setzte sich im dunklen Zimmer auf ihr Bett. Sie fühlte sich völlig ausgelaugt, aber weinen wollte sie auf keinen Fall. Sie fand es schrecklich, wenn sie weinte. Nur - wohin mit den tausend Emotionen, die auf sie einstürmten? Sie seufzte tief.
»Du kannst ruhig weinen«, flüsterte Jonah.
Super, dachte Ronnie. Auch das noch.
»Ich weine nicht.«
»Klingt aber so.«
»Blödsinn«, entgegnete
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