Mit einem Bein im Knast: Mein Versuch, ein Jahr lang gesetzestreu zu leben (German Edition)
ausführlich zu äußern. Es ist die Zeit derer, die das neue Kommunikationsmedium zu nutzen wissen. Es ist kein Abbild der kompletten Gesellschaft, auch wenn das immer wieder suggeriert wird. Die Führungsstruktur der Piratenpartei zeigt das: vorwiegend männlich, gebildet, jung, nicht unbedingt arm und vor allem reich an Zeit.
Im Netz, so heißt es immer, regiert der Schwarm – doch die Studien zeigen, dass der Schwarm sich nicht aus der kompletten Gesellschaft rekrutiert. Und es ist auch nicht bewiesen, dass dieser Schwarm so intelligent ist, wie bisweilen angedeutet wird. Der Politologe Karl-Rudolf Korte spricht deshalb auch von »Schwarmdummheit und Schwarmfeigheit«.
Wie sollen wir umgehen mit der Anonymität im Netz? Schnell ein Gesetz einführen, das die Preisgabe persönlicher Daten, einen Fingerabdruck und einen Blutstropfen von jedem fordert, der im Internet surfen möchte? Ich fürchte, dass nicht wenige Politiker so etwas vorhaben – schließlich agieren viele beim Umgang mit dem Netz so: Wir gehen ins Internet und fragen: »Bist du der Feind?« Wenn jemand »Ja« sagt, dann knallen wir ihn ab!
Oder sollen wir Anonymität erlauben? Das Problem ist, dass ein bisschen Anonymität nicht geht. Entweder man lässt sie zu, wie man sie auch in der analogen Welt zugelassen hat, und lernt, mit den Konsequenzen zu leben – oder man schafft sie ab. Wie soll ein Gesetz aussehen, das ein bisschen Anonymität erlaubt?
Anonymität befreit den Täter von den Konsequenzen des eigenen Handelns. Für die Opfer dieses Handelns bleiben die Konsequenzen allerdings bestehen. Hat sich jemand entschuldigt beim durch den Cyber-Mob vorverurteilten Mann aus Emden? Und wer bezahlt die Therapie, die er braucht? Wer bezahlt den Schaden für ein Unternehmen, wenn es durch einen unberechtigten »Shitstorm« ein schlechtes Image bekommt? Und wer schützt einen davor, Opfer eines Angriffs im Internet zu werden?
Das Internet ist keine Spielerei einiger weniger, auch wenn sehr viele Menschen in den vergangenen Jahren so getan haben, als wäre dieses Internet eine Modeerscheinung, die verschwindet wie Karottenjeans, neongelbe Sakkos und Brillen mit Tigermuster. Es prägt das Leben der meisten Menschen hierzulande. Es ist eine neue Zeit mit neuen Regeln. Es ist das Faszinierende dieser Spezies, dass sie seit Jahrhunderten in einer Welt lebt, die sich stets verändert hat – und sich immer angepasst und überlebt hat.
Ich habe kein Patentrezept für den Umgang mit dem Netz. Wir müssen lernen aus Fällen wie dem von Emden. Der junge Mann ist nämlich nur knapp dem Schicksal des George Johnson entwischt, psychisch ist er auf Jahre geschädigt. Wir müssen lernen aus dem Selbstmord der jungen Kanadierin.
Die Welt verändert sich gerade vor unseren Augen – und Gesetze und Verbote werden diese Veränderungen nicht aufhalten. So wie der Gott Zeus sich vor Tausenden von Jahren getarnt hat, um eine hübsche Frau zu bekommen, so werden sich die Menschen auch künftig tarnen, um ihre Meinung zu verkünden.
Wir müssen jedoch lernen, dass unser Handeln im Internet Konsequenzen hat für das, was in der realen Welt passiert – und dass wir mit diesen Konsequenzen leben müssen.
Kapitel 28
Gesetzesbrecher V: Die Nutte
Wie schreibt man einen Text über Prostituierte, ohne dabei an Julia Roberts und Pretty Woman zu denken? Oder an Irma la Douce von Billy Wilder oder Geliebte Aphrodite von Woody Allen? An jene Filme, die mit der Pygmalion-Thematik zu erklären versuchen, dass jede Prostituierte heimlich darauf wartet, gerettet zu werden – von einem Milliardär, einem Polizisten, einem englischen Lord oder einem Sportjournalisten.
Wer sich an so einem Text versucht, der ist derart vollgestopft mit Klischees, dass er gar nicht umhinkommt, die eigene Arbeit mit Klischees vollzustopfen.
An Die Schöne des Tages ( Belle de Jour ) von Luis Buñuel denkt kaum jemand: Cathérine Deneuve spielt die Ehefrau eines Arztes, die sich in einem Selbstfindungsprozess als Prostituierte hingibt. Buñuel stellt in seinem Werk die bürgerlichen Konventionen infrage und dabei nicht nur der Bourgeoisie, sondern auch der Institution Ehe den Totenschein aus.
Wer denkt schon daran, wenn er an Prostituierte denkt? Eher schon an Tänzerinnen in den Videos von 50 Cent und Daddy Yankee und Sean Combs.
Die Vorstellung, eine Prostituierte zu befreien, ist nicht nur ein bescheuertes Klischee, es ist auch ein Männertraum. Sie hält sich ähnlich hartnäckig im
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