Mit einem Bein im Knast: Mein Versuch, ein Jahr lang gesetzestreu zu leben (German Edition)
Abgeordneten kostenlos hinzugeben habe.
Europa gefällt das.
Anonymität ist kein Problem des 21. Jahrhunderts, und es ist auch kein Internet-Phänomen – auch wenn Politiker immer wieder versuchen, den Menschen genau das einzureden. Axel E. Fischer, CDU -Abgeordneter und Vorsitzender der Enquete-Kommission »Internet und digitale Gesellschaft«, forderte einmal ein »Vermummungsverbot im Internet«, Innenminister Hans-Peter Friedrich gar ein Ende der Anonymität. Erst als es Proteste gab, sagten beide, sie hätten das natürlich nicht so gemeint. Politiker wettern gerne gegen die angebliche Vermummung im Internet – sagen aber nicht, wie ein Verbot funktionieren soll. Wenn man ihnen dann mitteilt, dass man es natürlich so machen könnte wie in China, wo man den Personalausweis vorzeigen muss, wenn man in einem Internet-Café surfen möchte, dann rudern deutsche Politiker ganz schnell zurück. Nein, China will keiner.
Anonymität gehört zum öffentlichen Raum – und den gibt es nicht nur im Internet, sondern auch in der analogen Welt. Wenn die Fans von Schalke 04 den Münchner Torwart Manuel Neuer beim Abstoß als Gesäßöffnung, Selbstbefriediger und Sohn einer Halbweltdame bezeichnen, dann tun sie das nicht zuletzt in der Gewissheit, gemeinsam mit 30000 anderen Schalker Fans zu brüllen und nicht als Individuen identifiziert zu werden.
Die Menschen lästern nicht nur im Internet, sie lästern am Telefon, per SMS , beim Kaffeekränzchen. Das Internet ist nur das Transportmittel – Sender und Empfänger sind nach wie vor die Menschen. Die Frage lautet: Hat sich durch das Internet wirklich derart viel geändert?
Privatsphäre und Anonymität sind wichtige und schützenswerte Güter in unserer Gesellschaft, auch wenn manche schon deren Ende ausrufen wie Christian Heller in seinem Buch Post-Privacy. Prima leben ohne Privatsphäre . Datenschutz sei nur das Hinauszögern des Unausweichlichen, der Mensch solle sich darauf einstellen, bald ein Leben ohne Privatsphäre zu führen. Heller schreibt: »Wenn sich unsere Privatsphäre nach und nach auflöst, dann wird uns das sicher nicht nur neue Möglichkeiten eröffnen, sondern viele Sorgen bereiten. Aber: Sorgenfrei war unser Leben noch nie.« Das klingt naiv und beinahe zynisch angesichts dessen, dass im Herbst 2012 eine junge Kanadierin auf YouTube ihren Selbstmord wegen Cyber-Mobbing ankündigte und später vollzog.
Ich habe mich auch schon unter Pseudonym geäußert – sowohl im Internet als auch in der analogen Welt. Ich stand in der Fankurve von Fußballstadien und habe Sportler ausgepfiffen. Ich habe in Foren gelästert, und ich habe Kritiken unter Pseudonym verfasst. Auf der Homepage meines früheren Fußballvereins habe ich mich in Foren selbst gelobt, weil es sonst keiner tun wollte. Ich fühlte mich sicherer und stärker, wenn ich nicht meinen Namen nennen musste. In vielen Fällen war ich einfach nur zu feige.
Auf der anderen Seite habe ich mich geärgert, wenn jemand anonym über mich gelästert hat. Ich kann schon mit Kritik umgehen – aber nicht besonders gut. Es ist wie bei vielen anderen Dingen im Leben auch: Das Verhalten des anderen ist viel schlimmer als das eigene.
In manchen Fällen kann es richtig schlimm werden, wie im März 2012 deutlich wurde: In Emden hat ein junger Mann ein Kind umgebracht, die Polizei verhaftete recht öffentlich und vor allem recht medienwirksam einen Verdächtigen – und sofort kam eine Maschinerie in Gang: Boulevardzeitungen nannten den Verhafteten sogleich einen »miesen Kindermörder«, viele Nachrichtenseiten sprachen vom »Täter« und nicht vom »Verdächtigen« oder »Verhafteten«.
Der Mann war unschuldig.
Im Internet bündelte sich die Wut der Bürger, die sich zunächst besorgt gaben, dann jedoch eine Digital-Exekutive bildeten und Informationen sammelten: Dort wohnt der Kindermörder, das ist ein Foto von ihm, so gelangt man zu seinem Haus. Der Cyber-Mob war nicht mehr zu bremsen und diskutierte eigentlich nur noch über eine Sache: Sollte der junge Mann denn nun kastriert, aufgehängt, gesteinigt oder doch ganz klassisch erschossen werden?
Der Mann ist unschuldig – aber es ist unklar, ob er jemals wieder eine ruhige Nacht verbringen wird.
Sind die Beispiele des kanadischen Mädchens oder des unschuldigen Mannes aus Emden tragische Einzelfälle? Oder zeigen sie einen Trend an, der einen beschäftigen muss? Und welche Rolle spielt das Internet dabei tatsächlich?
Lynchjustiz gibt es nicht erst
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