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Mit einem Bein im Knast: Mein Versuch, ein Jahr lang gesetzestreu zu leben (German Edition)

Mit einem Bein im Knast: Mein Versuch, ein Jahr lang gesetzestreu zu leben (German Edition)

Titel: Mit einem Bein im Knast: Mein Versuch, ein Jahr lang gesetzestreu zu leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Schmieder
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Straße zu gehen, wenn es niemand sieht?
    Welche Folgen das haben kann, zeigen zwei Statistiken: Die eine beschäftigt sich mit Ladendiebstahl. In der Polizeilichen Kriminalstatistik wurde dafür im Jahr 2009 ein Schaden von 75 Millionen Euro ausgewiesen. Eine Untersuchung des Einzelhandels allerdings kommt im selben Jahr auf eine Schadensumme von zwei Milliarden Euro. Der Unterschied entsteht dadurch, dass in der offiziellen Statistik nur tatsächlich angezeigte Diebstähle erfasst sind. Die Menschen in Deutschland klauen wie verrückt – doch die Händler zeigen nur einen Bruchteil davon an, weil eine Anzeige meist keine Aussicht auf Erfolg hat. Die Händler kalkulieren das ein und verlangen deshalb höhere Preise von den ehrlichen Einkäufern. Wir alle bezahlen also für die Diebe mit.
    Das zweite Beispiel beschäftigt sich mit Versicherungsbetrug. Die Versicherungswirtschaft hat mehrere Studien veröffentlicht, die sich mit betrügerisch inszenierten Autounfällen beschäftigen. Pro Jahr entsteht durch diese nicht aufgeklärten Fälle ein Schaden von drei Milliarden Euro. Nur: Kaum jemand würde sich selbst als Gesetzesbrecher identifizieren, nur weil er einmal falsche Angaben bei der Versicherung gemacht hat.
    Wieder bezahlt die Gemeinschaft der Versicherten den Schaden, den Betrüger anrichten.
    Wie schwer diese Dunkelziffern und damit der tatsächliche, durch Kriminalität verursachte Schaden zu bestimmen sind, zeigt die Diskussion um Steuerbetrüger in Deutschland. In der Statistik über abgeschlossene Steuerstrafverfahren ist zu lesen, dass etwa im Jahr 2004 durch die Arbeit von Steuerfahndern 1,6 Milliarden Euro mehr eingenommen wurden. Horst Höppner vom Institut für Finanzen und Steuern sagt dazu: »Wie viel Steuern jährlich hinterzogen werden, lässt sich eigentlich gar nicht ermitteln. Man kann versuchen, es hochzurechnen, aber genauso gut könnte man sich fragen, wie viele Menschen eigentlich täglich zu schnell fahren.« Manche Hochrechnungen gehen von etwa 20 Milliarden Euro aus, die pro Jahr hinterzogen werden, andere sprechen gar von bis zu 100 Milliarden Euro.
    Bezeichnet sich irgendjemand, der Steuern hinterzieht, als Verbrecher? Wohl kaum, vielmehr greifen Robin-Hood-Syndrom und Systemparadox. Das Robin-Hood-Syndrom funktioniert so: Wer ein Gesetz bricht, der bezeichnet sich niemals als Verbrecher, sondern begründet sein Vergehen mit einem hehren Ziel, entweder für sich selbst oder für die gesamte Gesellschaft. Wer im Hotel ein Handtuch klaut, der macht es nur, um seiner Frau eine Freude zu machen – und spielt sein Verbrechen mit dem Argument herunter, dass der Diebstahl doch ohnehin im Preis für die Übernachtung inbegriffen sei. Und überhaupt gehörten Hotelketten vor Reichtum stinkenden Gaunern, also sei es nur legitim, ein paar Handtücher und Bademäntel zu stehlen. Und wer Steuern hinterzieht, der nimmt doch nur von den Reichen (den anderen) und gibt es den Armen (sich selbst).
    Das Systemparadox geht so: Handelt es sich darum, Rechte durchzusetzen, so lieben wir es, dass in diesem Land »Recht und Ordnung« herrscht. Wenn es aber um die Pflichten geht, dann hassen wir dieses System und finden es pfiffig, es zu umgehen.
    Eine Kombination von Robin-Hood-Syndrom und Systemparadox ist bei der Steuererklärung zu beobachten: Wir selbst nutzen jedes legale und illegale Schlupfloch, schließlich ist das System derart schlimm, dass es doch nur gerecht sei, bei der Erklärung zu schummeln und so viel wie möglich herauszuschinden. Wenn es ein anderer tut – vor allem, wenn er bekannt oder reich ist –, ist die Empörung groß. Die anderen haben sich gefälligst an die Regeln zu halten, wir selbst dürfen es gerne umgehen.
    Ich habe bei meinen bisherigen Lesungen immer gefragt: »Wer hat seine Steuererklärung immer ehrlich gemacht?« Von bislang 5000 Menschen haben bei dieser Frage ungefähr 100 Menschen die Hand gehoben – also zwei Prozent.
    Wir lieben die Rechte und hassen die Pflichten.
    Die Mischung aus Robin-Hood-Syndrom und Systemparadox macht die meisten Menschen zu Verbrechern – nur reden sie es sich schön. Und vergessen, dass sie meistens jemandem schaden.
    Uns passiert vielleicht nichts, wenn wir ein parkendes Auto anfahren, einen Kratzer hinterlassen und dann unbemerkt abhauen – doch jemand muss sein Auto reparieren lassen. Vielleicht findet niemand heraus, dass auf unserem Computer 200 Filme gespeichert sind, doch jemandem entgehen die Einnahmen. Und womöglich

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