Mit einem Bein im Modelbusiness
Beispiel kam aus Paris und hatte gerade eine große Kampagne für Louis Vuitton gemacht. Als ich das sah, staunte ich nicht schlecht. Unter den Models waren nämlich extrem viele Diven dabei, die sich wie Rockstars aufführten. Aus jeder Kleinigkeit wurde gleich ein großes Drama inszeniert, als ob die Rettung der Welt davon abhinge. Chris dagegen war ganz anders. Er schwebte nicht über dem Boden wie die meisten anderen, und das gefiel mir sehr.
» Hier musst du rein«, sagte er, als wir vor meinem Fitting-Room standen. » Dort hast du dein eigenes Team, das dich einkleidet. Sei ganz locker! Der Rest kommt ganz von selbst. Die Leute sagen dir schon, was du zu tun hast.«
» Cool, ich danke dir. Echt jetzt, vielen Dank. Gibt’s sonst noch irgendwas, was ich beachten muss? Mir sind heute schon genug Fauxpas passiert.«
» Alles cool, Mario. Ich bin gleich hier gegenüber. Du läufst nachher einfach hinter uns allen her, und dann checkst du das von alleine. Hey, du zitterst ja. Beruhige dich, das wird schon.«
Ich war wahnsinnig froh, dass jemand wie Chris da war, der mich kurz an die Hand nahm und mir Mut zusprach. Erst jetzt realisierte ich nämlich, wo ich gelandet war: nicht auf einer normalen Modenschau, sondern auf der Jahrespräsentation, die sich HUGO BOSS so einiges kosten ließ. Dafür wurden Topmodels aus der ganzen Welt eingeflogen, alle wichtigen internationalen Modemagazine hatten ihre Redakteure vor Ort, und die Modehäuser schickten ihre Einkäufer. Auf den Punkt gebracht: 2000 potenzielle Kunden würden mich heute laufen sehen! Mir schlackerten die Knie bei dem Gedanken. Unter all den Superstars fühlte ich mich wie ein kleiner Praktikant, der gerade erst das Laufen gelernt hatte.
Der große Schock
Generell habe ich kein Problem damit, mich vor fremden Menschen auszuziehen. Ich mag meinen Körper, weswegen es mir auch Spaß macht, ihn zu zeigen. Mit einer anderen Einstellung könnte ich diesen Modeljob gar nicht machen. Außerdem waren die Reaktionen auf meine Orthese während der Test-Shootings durch die Bank positiv. Aber selbst wenn sich jemand an meinem Handicap stört, so ist das nicht meine Sache. Ich sage mir immer: Was andere von mir denken, muss deren Kopf aushalten, nicht meiner.
Beim Fitting passierte es dann. Ich zog meine Sneakers aus und hing meine Jeans über den Stuhl, der neben einer kleinen fahrbaren Korkwand stand. Ein paar meiner Fotos waren darauf mit dünnen Stecknadeln befestigt. Das Outfit, das ich präsentieren sollte, hing an einem Bügel direkt daneben. Ich stand in meinen Boxershorts davor und hörte wieder Jay-Zs Stimme in meinem Kopf: The sky’s the limit, but I ain’t done jumpin’. Money is fast, but I ain’t done runnin’.
Ich war so mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, dass ich gar nicht merkte, wie es um mich herum still geworden war. Als ich mich umdrehte und in die fassungslosen Gesichter blickte, schien es gar, als sei die Zeit stehen geblieben. Ich fühlte mich wie Neo aus Matrix, nur ohne seine Fähigkeiten.
» Was geht denn hier ab?«, sagte ich leise, ohne eine Antwort zu erwarten.
Meine Fitting-Crew – zwei Frauen und ein Mann – und die beiden anderen Models schauten mich mit versteinerter Miene an, als hätte ein Zauberstrahl sie schockgefroren. Über ihnen waberte eine große Sprechblase, in der mit Großbuchstaben geschrieben stand: » WHAT THE FUCK IS GOING ON HERE ?«
Ich musste nicht lange überlegen, um die Situation richtig einzuordnen. So wie die mich anstarrten, wussten die überhaupt nichts von meiner Behinderung. Anscheinend hatten sie gedacht, einen ganz normalen Jungen zu buchen. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Irgendwer hatte hier richtig Scheiße gebaut.
Ohne zu zögern schaltete ich vom Model- auf den Krisenmanagement-Modus um und versuchte zu retten, was noch zu retten war.
» Hey Leute, alles bestens«, sagte ich schnell und setzte das breiteste Grinsen auf, das ich zu bieten hatte. » Macht euch wegen mir keine Sorgen. Ich brauche keine Extrawurst! Alles easy. Ich probiere jetzt mein Outfit an, und dann ist der Drops auch schon halb gelutscht, okay?«
Gar nichts war okay! Ich bekam nur noch mehr Fragezeichen entgegengeschleudert. Und ich konnte sie gut verstehen.
Es dauerte nicht lange, und der zweite Casting-Chef stand schweißgebadet neben mir und wich mir nicht mehr von der Seite. Er entschuldigte sich permanent dafür, dass sich nicht schon früher jemand um mich gekümmert hätte, und sagte, ihm täte
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