Mit einem Bein im Modelbusiness
genau in dem Moment ein, als sie in die Mittagspause gehen wollte. Ich bekam fünf Minuten. Scheiße, war sie angepisst. Mir war die Situation superpeinlich, denn wäre ich an ihrer Stelle gewesen, hätte ich auch keine Lust mehr auf mich gehabt. Sie nahm meine Sedkarte, drehte sie einmal um und pfefferte sie, ohne mit der Wimper zu zucken, gegen die Wand. Dann blätterte sie sichtlich gelangweilt durch mein Buch, Seite für Seite, klappte es zu, gab es mir zurück und sagte mit dem kältesten Gesichtsausdruck, den ich jemals gesehen habe: » Schönen Tag noch!«
Ich überlegte kurz, ob ich versuchen sollte, ihr die Situation zu erklären, ließ es aber doch bleiben. In ihren Augen war ich es, der es verkackt hatte, und nicht meine Bookerin – basta! Außerdem konnte ich mir schon denken, was sie geantwortet hätte: » Junge, komm klar! Wenn deine Agentur nicht gut für dich arbeitet, dann musst du sie eben wechseln oder dafür sorgen, dass sie dich ernst nehmen, aber langweile mich nicht mit deinen lächerlichen Ausreden, und vor allem stiehl mir nicht meine kostbare Zeit.«
Armer Julien!
Ich setzte mich in ein kleines Café um die Ecke der Redaktion, trank einen Espresso und dachte nach – über Mailand, meine Zukunft, das Business im Allgemeinen und ob dieser Weg, den ich eingeschlagen hatte, überhaupt der richtige für mich war. Wie man das eben so macht, wenn man von der Vogue einen Korb bekommt – man stellt plötzlich alles infrage! Als ich auch nach dem dritten Espresso keine Antwort auf meine Fragen fand – natürlich nicht –, schob ich einen Fünf-Euro-Schein unter die Tasse und fuhr gedankenleer ins Loft zurück. Es war wie so oft, viel Ärger und Aufregung um nichts und wieder nichts.
In den kommenden Tagen passierte nicht viel, außer dass ich eine lange Mail von Julien bekam, einem Modelkumpel aus Frankreich, dem es gerade richtig beschissen ging. Ich hatte ihn während meiner ersten Casting-Woche in Paris kennengelernt. Damals war er von zwei Betrügern abgezogen worden, die ihm 3000 Euro Kaution für eine Mietwohnung abgeknöpft hatten, die ihnen gar nicht gehörte. Julien passierten ständig solche Missgeschicke. Als ich ihn das nächste Mal in Mailand traf, wusste er nicht mal, wo er schlafen sollte, weil er völlig abgebrannt war. Der Junge hatte keine zehn Euro mehr in der Tasche.
» Mario, ich weiß nicht, wie lange ich dieses Leben noch durchhalte«, gestand er mir mit Tränen in den Augen, als er eines Abends in unserer WG -Küche saß und ich ihm etwas zu essen brutzelte. » Für die nächsten beiden Tage habe ich noch Shootings. Ich bekomme zwar kein Geld, aber wenigstens bin ich irgendwo untergebracht. Aber dann? Keine Ahnung!«
So lebte Julien: von der Hand in den Mund. Solange er nur irgendwie den heutigen Tag überstand und am nächsten Morgen wieder aufwachte, ging es weiter. Irgendwie!
Seine Nachricht, die ich mir entspannt im Liegestuhl auf der Dachterrasse durchlas, klang gar nicht gut. Er steckte gerade irgendwo in Tokio fest, hatte Ärger mit seiner Agentur, die ihm den Rest seines Vorschusses nicht auszahlen wollte, da er nicht auf die vereinbarte Anzahl an Editorials kam, und war mal wieder völlig broke.
» Ich knapse gerade voll am Existenzminimum herum. So schlimm war es noch nie. Ich habe nichts mehr. Nichts! Und alles extrem schäbig hier. Wieso kann es denn nicht auch mal für mich bergauf gehen?«
So wie Julien ergeht es vielen Models. Er reist mit seinem Koffer nonstop durch die Welt und klappert jede noch so kleine und unbedeutende Fashion Week ab, immer auf den einen Anruf hoffend, der endlich den Durchbruch bringen könnte oder wenigstens einen neuen Job, der die nächste Woche finanziert. Er ist siebenundzwanzig Jahre alt, hat keine abgeschlossene Ausbildung und studiert auch nicht nebenbei wie viele andere von uns. Für ihn heißt es alles oder nichts. Jeden Morgen, wenn der Wecker klingelt, schaut er in den Spiegel und sagt sich: Heute wird es funktionieren. Es muss einfach!
Julien sieht wirklich gut aus, daran liegt es nicht. Aber es gibt eben verdammt viele Jungs, die gut aussehen und den gleichen Traum haben wie er. Wie wir alle. » Mario, ich habe mein ganzes Leben verfeiert«, las ich weiter im Text. » Ich weiß auch nicht. Ich habe mir von Freunden Geld geliehen für ein One-Way-Ticket nach S ã o Paulo. Morgen früh geht’s los. Vielleicht habe ich da ja mehr Glück. Also, mach’s gut. Ich umarme dich. Dein Julien.«
Armer Julien, dachte
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