Mit freundlichen Küssen: Roman (German Edition)
Schokoladeneiern liegt auf den Stufen, die nach oben führen. Eine Sekunde lang stehe ich einfach nur da, dann folge ich ihr mit unsicheren Schrittchen, ein Schokobon nach dem anderen aufhebend. Ich spüre, wie eine prickelnde Erregung durch meinen ganzen Körper läuft, während ich höher und höher steige und schließlich auf dem Dachboden ankomme. Schwer atmend stehe ich vor der schiefen Tür aus dunklem Holz und lege meine Hand auf die Klinke, während ich mit dem anderen Arm einen ganzen Berg von Schokobons gegen meinen Körper presse. Das Herz pocht mir bis zum Hals, meine Mundwinkel ziehen sich unwillkürlich nach oben vor Erwartung. Doch dann rufe ich mich innerlich zur Ordnung. Glaube ich wirklich, dass Simon hinter dieser Tür auf mich wartet? Der feiert doch gerade mit dieser blöden Laura seinen Einzug. Zögerlich trete ich einen Schritt zurück und sehe auf die Bonbons in meinem Arm hinunter. So sicher, wie ich mir eben noch wahr, dass Simon diese Schnitzeljagd initiiert hat, so völlig abwegig erscheint mir jetzt diese Idee. Er ist eindeutig gerade bei Laura, ich habe die Reste ihres Picknicks mit eigenen Augen gesehen, und da man nicht an zwei Orten gleichzeitig sein kann, wartet dort auf dem Dachboden jemand anderes auf mich. Plötzlich bekomme ich es mit der Angst zu tun. Sehe ich zu viele Thriller, oder warum finde ich es plötzlich völlig logisch, das zufällig auserkorene Ziel eines psychopathischen Frauenmörders zu sein, der seine Opfer auf deren eigenem Dachboden in Stücke hackt?
Die Schokobons prasseln auf den Boden, als ich auf dem Absatz kehrtmache und ein paar Schritte in Richtung meiner Wohnung zurückrenne.
Das Handy vibriert erneut, und ich halte inne.
ICH WARTE AUF DEM DACH AUF DICH.
Unsinn, was soll das – nimm dich zusammen, Vivi. Ich muss jetzt einfach nachsehen. Mit einem Satz bin ich wieder auf den Dachboden und reiße die Tür auf. Es ist stockdunkel hier oben, und ich taste rechts nach dem Lichtschalter. Es riecht nach morschem Holz. Meine Augen fliegen umher und bleiben an der Holzleiter hängen, die auf das Dach führt. Auf der dritten Stufe liegt das weiß-orangefarbene Bonbon, das ich gesucht habe. Mit zwei langen Schritten bin ich an der Leiter und steige empor. Oben angekommen greife ich nach dem leicht rostigen Griff der Dachluke und stoße sie auf. Das Erste, was ich sehe, ist ein weiteres Schokoladenei direkt vor meiner Nase. Dann hebe ich den Kopf und sehe Simon, der in Jeans und Langarmshirt an den Schornstein gelehnt sitzt. Um ihn herum befindet sich ein Meer aus Windlichtern, mehr, als ich je auf einmal gesehen habe, neben ihm ein CD-Spieler, aus dessen Boxen »Welch ein Tag« von Mario Jordan erklingt. Mir schießen die Tränen in die Augen. Ausgerechnet zu dieser Schnulze haben wir uns das erste Mal geküsst. In diesem Moment leuchtet Simons Gesicht auf, er springt auf, streckt seine Hände aus und hilft mir aufs Dach. Ein wenig unsicher klettere ich aus der Luke und komme dicht vor ihm zum Stehen. Mein Blick wandert über das romantische Szenario und dann weiter über das nächtliche Hamburg.
»Ein schöner Tag, die Welt steht still, ein schöner Tag, komm Welt, lass dich umarmen, welch ein Tag.« Ich versuche, mich zu sammeln. Versuche, zu begreifen, was hier vor sich geht. Eben noch habe ich mit eigenen Augen die Überreste seines Picknicks mit Laura gesehen, und nun das hier. Was hat all das zu bedeuten? Ich sehe zu ihm hoch, sehe in seine schönen Augen, die einen Ausdruck haben, der mir seltsam vertraut ist, und den ich schon so lange vermisst habe. Und plötzlich brauche ich keine Fragen mehr zu stellen: Simon nimmt mein Gesicht in beide Hände und küsst mich zärtlich. Ich schließe die Augen, schlinge die Arme um seinen Hals, ich schmecke seine Lippen, rieche seinen Duft, höre unser Lied, spüre einen leichten Windzug in meinem Haar und bin einfach nur glücklich.
Eine Ewigkeit später lösen wir uns voneinander.
»Simon«, will ich gerade ansetzen, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnehme. Zu unseren Füßen schaut Lutz’ verwuschelter Haarschopf aus der Luke hervor. Er grinst wie ein Honigkuchenpferd von einem Ohr zum anderen, zuckt jetzt aber ertappt zusammen.
»Entschuldigung, wollte nicht stören, ich, also, dann geh ich mal. Bin schon weg«, nuschelt er vor sich hin, während er den Rückzug antritt.
»Manno, ich wollte auch mal gucken«, dringt Luisas Stimme zu uns herauf, bevor sich die Dachluke wieder schließt. Dann
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