Mit freundlichen Küssen: Roman (German Edition)
du nicht, dass wir alle schon mal eine Verspannung im Rücken hatten? Ich kenne niemanden, der sich deshalb so anstellt«, meint er missbilligend »Nimm halt noch ein paar von diesen Pillen und dann reiß dich gefälligst zusammen. Ich warte unten auf dich.«
»Ich bin in fünf Minuten da«, verspreche ich, ins Badezimmer verschwindend. »Äh, zehn«, korrigiere ich mich nach einem Blick in den Spiegel. Mit einem ungläubigen Schnauben verlässt Benjamin den Raum.
Im grauen Nadelstreifenkostüm, sorgfältig geschminkt und einigermaßen gefasst trete ich eine Viertelstunde später aus dem Aufzug in die Hotellobby, wo Benjamin auf einem der schwarzledernen Sessel sitzt und auf seinem Laptop herumhackt. Schweigend verlassen wir das Hotel und steigen in das erste der vor dem Hotel wartenden Taxis.
»Bist du auf die Telko heute Nachmittag vorbereitet?« Damit meint er die wöchentliche Telefonkonferenz mit dem für uns zuständigen Seniorpartner Harald Huber. Anscheinend will er den Vorfall von heute Morgen nicht mehr erwähnen. Ich bin ihm unendlich dankbar dafür, denn allein der Gedanke an die Situation treibt mir die Schamesröte ins Gesicht: Ich halbnackt, mit einer Kotzepfütze auf dem Teppichboden und einem zerbrochenen Weinglas neben mir.
»Hallo?«, dringt seine Stimme an mein Ohr, und er wedelt mir mit der Hand vor dem Gesicht rum. »Du bist wohl immer noch nicht ganz wach.« Er klingt gereizt. Entschlossen wende ich mich ihm zu. Es hilft nichts, ich muss die Karten auf den Tisch legen, wenn ich nicht seinen gesamten Respekt verlieren will. Ich atme tief durch und sage mit fester Stimme:
»Es tut mir wirklich Leid, dass ich im Moment so neben der Spur bin. Mein Freund hat mich am Wochenende verlassen«, ich ignoriere den Kloß in meinem Hals, »und ich gebe zu, dass mich das schockiert hat. Ich danke dir sehr dafür, dass du gestern und heute meinen Hals gerettet hast. Ab jetzt werde ich mich zusammenreißen.« Erschöpft von dieser kleinen Ansprache lehne ich mich im Sitz zurück und schließe die Augen. Ich bin recht stolz auf mich, dass ich so nüchtern und klar gesprochen habe. In diesem Moment spüre ich eine Hand auf meinem Arm. Der Daumen streichelt fast unmerklich über meine Haut. Ich sehe auf und in Benjamins Gesicht. Seine Züge sind jetzt ganz weich, mitfühlend.
»Wieso hast du das nicht gleich gesagt, Vivi? Tut mir wirklich schrecklich Leid.« Ich ringe um Fassung.
»Schon gut«, sage ich schnell. »Wo waren wir? Die Telko …«
»Hör zu, mach dir keine Sorgen, okay? Ich werde versuchen, dir diese Woche so viel wie möglich abzunehmen.«
»Aber …?«
»Natürlich. Wir sitzen doch alle in einem Boot. Glaub mir, ich weiß am besten, dass unser Job ein Beziehungskiller sein kann.« Nachdenklich fummelt er an dem goldenen Ring an seiner rechten Hand herum. Mit großen Kulleraugen starre ich ihn an.
»Aber du und deine Frau, ihr seid doch wohl nicht auch...«
»Nein, nein, wir sind noch zusammen, aber …« Er seufzt tief. »Es ist nicht so einfach, wenn man keine Zeit hat.«
»Ich weiß«, bestätige ich inbrünstig.
»Manchmal glaube ich, Lydia bleibt nur noch bei mir, weil ich ihre Kreditkartenrechnung zahle«, sinniert Benjamin. Tja, mit schnödem Materialismus konnte ich Simon leider nie kommen. Der ist so was von konsumresistent. Was ich aber eigentlich wirklich toll fand. Nicht drüber nachdenken. »Also jedenfalls, sei dir meiner vollen Unterstützung sicher. Gemeinsam werden wir das Kind schon schaukeln.« Dankbar lächele ich ihn an.
Mit Benjamins Hilfe komme ich in den nächsten Tagen tatsächlich einigermaßen über die Runden. Er ist geradezu rührend besorgt um mich, nimmt im Büro stillschweigend das Ruder in die Hand und springt ein, wenn ich nicht mehr weiter weiß, schirmt mich vor den anderen so gut es geht ab, damit ich nicht vor dem Team mein Gesicht verliere. Ich kann nicht beschreiben, wie dankbar ich ihm bin.
Am Donnerstagabend, ich habe mich gerade am Schreibtisch niedergelassen, um ein letztes Mal an der Präsentation für morgen zu feilen, steckt er seinen Kopf zur Tür meines Büros hinein.
»Wie läuft es? Alles klar bei dir?« Ich nicke angestrengt und wende mich der endlosen Aufstellung von Zahlen zu. Schon wieder sind meine Gedanken zu Simon abgeglitten. Kein Wunder, sitzt der doch ungeachtet der sich stapelnden Aktenordner und lose herumfliegenden Papiere mitten auf dem Tisch und lässt die beturnschuhten Füße baumeln. Langsam frage ich mich,
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