Mit geschlossenen Augen
nichts gesagt. Als wir uns verabschiedeten, erinnerte er mich noch mal an unsere Verabredung. Wer könnte die vergessen ...
22. Februar
Um eins bekam ich einen Anruf von Letizia, die mich fragte, ob ich Lust hätte, mit ihr zu Mittag zu essen. Ich sagte zu. Da für halb vier die Generalprobe unseres Theaterstücks angesetzt war, hätte ich es auch gar nicht geschafft, nach Hause zu fahren. Ich freute mich darauf, sie zu treffen; in letzter Zeit habe ich vor dem Einschlafen oft an sie gedacht. In echt war sie noch hübscher, noch wirklicher. Ich betrachtete ihre weichen Hände, während sie mir Wein einschenkte, und gleich darauf meine, die mir morgens beim Mofafahren immer fast abfrieren und so rot und trocken sind wie die eines Affen. Letizia hat über alles Mögliche geredet und es tatsächlich fertig gebracht, mir in einer Stunde ihr ganzes zwanzigjähriges Leben zu schildern. Sie erzählte mir von ihrer Familie, der früh verstorbenen Mutter, dem nach Deutschland ausgewanderten Vater und der Schwester, die sie kaum noch sieht, seit sie verheiratet ist. Auch von ihren Lehrern hat sie mir erzählt, von der Schule, der Universität, ihren Hobbys, ihrer Arbeit. Ich betrachtete ihre Augenbrauen und verspürte große Lust, sie zu küssen. Was für etwas Wunderliches die Augenbrauen doch sind! Letizias Brauen bewegen sich im Einklang mit ihren Augen und sind so schön, so perfekt, dass sie einen verleiten, sie zu küssen, um danach mit ihrem Gesicht weiterzumachen, mit ihren Wangen, ihrem Mund ... Jetzt weiß ich es, Tagebuch, ich begehre sie. Ich begehre ihre Wärme, ihre Haut, ihre Hände, ihren Speichel, ihre Flüsterstimme. Ich möchte ihren Kopf streicheln, ihr Eiland mit meinem Atem erkunden, ihrem ganzen Körper ein rauschendes Fest bereiten. Und doch fühle ich mich ‒ verständlicherweise ‒ blockiert, ich erlebe hier etwas ganz Neues, und ich kann natürlich nicht erwarten, dass sie dasselbe empfindet; vielleicht tut sie es ja, aber das werde ich wohl nie erfahren. Sie sah mich an und leckte sich dabei die Lippen, ihr Blick war ironisch, und ich fühlte mich überwältigt. Nicht von ihr, sondern von meinen eigenen Gelüsten.
»Möchtest du mit mir schlafen, Melissa?«, fragte sie mich, während ich an meinem Wein nippte.
Ich sah sie verstört an, stellte das Glas auf den Tisch zurück und nickte.
»Du musst es mir aber beibringen ...«
Beibringen, mit einer Frau zu schlafen, oder beibringen zu lieben? Vielleicht ergänzen sich die beiden Dinge ja ...
23. Februar 5 Uhr 45
Samstagnacht oder besser Sonntag früh, denn eigentlich ist die Nacht schon vorüber und der Himmel hell geworden. Ich bin glücklich, Tagebuch, glücklich und voller Euphorie, aber es ist keine wilde, sondern eine gedämpfte, geradezu selige Euphorie; sanfte, absolute Ruhe erfüllt mich. Heute Nacht habe ich entdeckt, dass es etwas Heiliges ist, sich demjenigen hinzugeben, der einem gefällt und der einem die Sinne betört; es ist der Moment, in dem der Sex aufhört, nur Sex zu sein, und die Liebe sich anbahnt: Ich schnuppere genüsslich an den duftenden Härchen auf seinem Rücken, liebkose seine kräftigen, weichen Schultern, streiche sein Haar glatt.
Ich war überhaupt nicht aufgeregt und wusste genau, was ich tat. Ich wusste, dass ich meine Eltern enttäuschen würde. Ich kletterte zu einem Siebenundzwanzigjährigen ins Auto, den ich kaum kenne, einem attraktiven Mathematiklehrer, der meine Begierde entfacht hat. Ich wartete vor dem Haus unter der mächtigen Pinie auf ihn, als ich seinen grünen Wagen langsam vorfahren sah; Valerio trug einen Schal um den Hals, seine spiegelnden Brillengläser blendeten mich. Entgegen seiner Aufforderung von neulich hatte ich nicht daraufgewartet, dass er mich anruft und mir befiehlt, was ich anziehen soll. Die Unterwäsche nahm ich diesmal aus der obersten Schublade, und darüber zog ich ein dünnes schwarzes Kleid. Als ich mich später im Spiegel betrachtete, schnitt ich eine Grimasse ‒ etwas stimmte noch nicht; erst als ich mir mit der Hand unter den Rock fuhr und den Slip wieder auszog, war ich zufrieden. »So bist du perfekt«, flüsterte ich lächelnd und warf mir einen Handkuss zu.
Als ich aus dem Haus trat, kroch mir die Kälte unter den Rock, und der Wind pfiff mir bissig in die nackte Scham. Als ich im Auto saß, schaute mein Lehrer mich mit leuchtenden Augen an und sagte: »Du hast nicht angezogen, was ich dir gesagt habe.«
Da richtete ich den Blick auf die Straße vor mir und sagte:
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