Mit Haut und Haaren
drei Vierteln fertig. – Bist du satt?«
Er nickt.
Sie stellt das leere Schälchen in die Spüle und geht mit ihm in den Flur.
»Hast du Sophie’s Choice gelesen?«, fragt sie.
»Nein, nur den Film gesehen. Warum?«
»Ich frage mich, ob Styron die Memoiren von Höß kannte.«
Er öffnet die Wohnungstür. Die New York Times liegt auf der Fußmatte. Er bückt sich und gibt
ihr die Zeitung.
»Du weißt doch, dass ich kaum Belletristik
lese?«
»Ich liebe dich«, sagt sie in der Hoffnung,
dass er ihr Bekenntnis erwidert.
»Es war schön«, sagt er. Er drückt sie an sich und schiebt sie gleich
wieder weg. Sie schaut ihm hinterher, wie er durch [345] die Eingangshalle des Apartmentgebäudes
flaniert. Flanieren, ja, das ist das Wort: Er flaniert.
Dann geht sie in die Küche zurück und setzt sich auf ihren Barhocker.
Sie legt die Zeitung neben ihren Frühstücksjoghurt und schlägt sie auf. Sie wartet,
dass die Kinder wach werden.
11
In einem Café an der Brouwersgracht sind kurz nach Mittag ein
paar Mütter und zwei Väter zusammengekommen, um über die WC s an der Schule zu sprechen, den Gestank auf den Toiletten.
Sylvie gehört zu den Initiatoren dieses Gesprächs, eine förmliche Elternversammlung
kann man es nicht nennen. Ihr Kind soll auf keine stinkende Toilette gehen. Wenn
die Schule kein Geld für eine vernünftige Putzfrau hat,
müssen die Eltern eben was unternehmen.
Doch das Gespräch, für das sie die Praxis extra früher zugemacht hat,
führt zu keiner Einigung.
Einer der Väter sagt: »Glaub mir, auch ich bin für saubere Toiletten,
sowohl bei uns zu Hause als auch für mein Kind in der Schule. Aber mir geht’s ums
Prinzip. Es ist Aufgabe der Schule, die Toiletten sauber zu halten. Und wenn’s nur
einen Euro pro Woche kostet, dafür geb ich kein Geld. Als Nächstes sollen wir noch
die Fensterputzer und die Klempner bezahlen! Wo soll das hinführen?«
[346] Damit starrt er in seine fast leere Cappuccinotasse.
»Wenn wir keine finanzielle Lösung finden, müssen wir die Toiletten vielleicht selber putzen«,
schlägt Sylvie vor.
»Ich denk gar nicht dran«, ruft der Vater.
»Bin ich irgend so’n Marokkaner, den sie zum Toilettenschrubben abkommandieren können?«
Kurz darauf sagt eine Mutter: »Tut mir leid, aber ich muss los, ich sehe
grad, wie spät es schon ist.«
Zehn Minuten später ist Sylvie allein und macht sich auf den Weg nach
Hause. Alle sind sich darüber einig, dass die Toiletten stinken, alle finden, es muss was geschehen, aber mal einen Entschluss fassen
– von wegen! Also werden die Toiletten weiter vor sich hin stinken.
Sie fühlt sich erschöpft, kaum noch imstande,
morgen früh in die Praxis zu gehen und zu bohren.
Lysander hat sich nicht mehr gemeldet, sie wird ihn auch nicht mehr anrufen.
Es ist sinnlos. Ein Satz, der ihr nicht aus dem Kopf geht und sich in ihr festsetzt
wie der durchdringende Geschmack einer exotischen Frucht. Es ist sinnlos.
Während sie ihr Rad sucht, ruft sie Roland
an.
»Was sind das für Hintergrundgeräusche?«,
fragt sie. »Wo bist du?«
»In einem Auto in Brooklyn.«
»Was machst du so früh in Brooklyn?«
»Ich hatte da was zu tun.«
»Um diese Uhrzeit?«
»Ich hatte da was zu tun.«
Sie bleibt stehen. »Hast du nachgedacht?«, fragt sie.
»Worüber?«
[347] »Darüber, wieder für ein Semester pro Jahr in die Niederlande zu kommen.
Um deinem Sohn ein Vater zu sein, nicht bloß eine Stimme am Telefon. Oder am Computer.
Ein Vater aus Fleisch und Blut.«
»Ich hab doch gesagt, lass uns in Fairfax darüber reden«, sagt Roland.
»Und ich bin aus Fleisch und Blut, auch wenn meine Stimme
aus dem Telefon kommt.«
»Es ist dringend, Roland. Ich bitte dich doch nicht bloß zum Spaß.« Während
sie mit ihm spricht, versucht sie, sich zu erinnern, wo sie ihr Rad angeschlossen
hat.
»Aber du kannst mich nicht einfach zu dir nach Hause bestellen, ich bin
keine Pizza. Warum nimmst du dir keine Au-pair-Hilfe? Eine, die rund um die Uhr
da ist. Ich will gern einen Kredit dafür aufnehmen.«
»Was soll ich noch machen, dass du mich endlich
verstehst?«
Sie streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Es weht ein rauher Wind.
»Ich verstehe dich«, sagt Roland. »Sehr gut sogar. Aber ich hab eine
Stelle. Verpflichtungen. Einen Vertrag. Mein Forschungsprojekt.
Die Spekulationsblase. Verstehst du mich eigentlich?«
Vor einem Käseladen bemerkt sie plötzlich Meneer van Neste. Er hat sie
auch gesehen. Er winkt.
»Ich rufe später noch
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