Mit Haut und Haaren
Junge nachgegeben, sich
entgegenkommend gezeigt. Die Leute beklagen sich manchmal, dass Worte keine Macht
mehr [351] besitzen, aber sie irren sich. Auf seine Initiative sponsert der Bezirk
Brooklyn ein Literaturfestival. Kultur ist Bildung, und die darf etwas kosten. Auf
so einem Festival hört man ab und zu interessante Dinge, wie zum Beispiel die These,
dass Worte keine Macht mehr besitzen. Es sind vor allem Schriftsteller, die das behaupten. Dabei ist das Entscheidende nur,
aus wessen Mund diese Worte kommen.
Noch immer kreisen sie über JFK . Er sitzt
mit dem Foto von Ava und Gabe in der Hand da, ohne irgendetwas von Bob Woodwards
Ausführungen über den Irakkrieg aufzunehmen.
»Zieh bitte die Schuhe aus«, hatte er zu Enrique gesagt.
Der UPS -Bote hatte ihn angesehen. Erst
erstaunt und dann wütend. Doch das kannte Jason aus der Kindererziehung, man will
nur das Beste, und sie werden wütend. Man darf nicht mit Dankbarkeit rechnen, muss
sich vielmehr auf Wut einstellen und darf dann nicht nachgeben.
So hatte er es auch bei dem Boten gemacht.
Und schließlich hatte Enrique die Schuhe doch ausgezogen. Schweigend.
Einfache schwarze Schuhe. Nicht teurer als vierzig Dollar. Vielleicht
sogar billiger. Sie mussten dringend geputzt werden.
Der Bote trug Sportsocken.
Jason hätte sie am liebsten geküsst, ihren Schweißgeruch einsaugen wollen,
doch er beherrschte sich.
Oft wollte er Gabe und Ava umarmen, obwohl
sie wegen einer Erziehungsmaßnahme eigentlich mit ihm schmollten, doch auch da wusste
er: Ich muss mich beherrschen.
»Und jetzt bitte die Hose«, hatte Jason gesagt.
[352] Er war mal in einem Stripclub gewesen, wo halbnackte Männer ein Kleidungsstück
nach dem anderen ablegten. Abstoßend hatte er das gefunden. Ein anrüchiger Laden
voll schmieriger Typen. Nach einer halben Stunde war er angewidert nach Hause gegangen.
»Und jetzt deine Hose«, sagte Jason noch einmal.
Der Junge, der da in Sportsocken und Botenuniform vor ihm stand, schüttelte
den Kopf.
»Nicht Hose«, sagte der Bote. »Nicht nötig.«
Jason saß auf dem Bett. Liebe zur Schönheit hieß letztlich Liebe zu einer
Person – und umgekehrt. Wer würde schon sagen: Meine Frau ist potthässlich, aber
sie hat ein gutes Herz, darum liebe ich sie? Das war keine Liebe, das war Mitleid.
Auch eine schöne Empfindung, ganz ohne Frage, aber keine
Liebe.
»Das ist sehr wohl nötig, Enrique«, sagte Jason. »Sehr wohl ist das nötig.
Was ich jetzt sage, klingt vielleicht pathetisch, aber darum ist es nicht weniger
wahr. Durch deinen Anblick weiß ich erst, wozu ich lebe. Schönheit und Gerechtigkeit
sind eins.«
Und weil der Bote sich noch immer nicht rührte, fügte Jason flüsternd hinzu: »Es wäre schrecklich, wenn wir dich zurückschicken
müssten, mir würde es das Herz brechen, wenn du aus den USA ausgewiesen würdest.«
So fiel auch die Arbeitskleidung des Boten.
Worüber beklagen die Schriftsteller auf Festivals
sich eigentlich immer? Über die Bildkultur, die das Wort an den Rand drängen würde.
Doch die Wahrheit ist: Sie schreiben einfach nicht gut genug.
Man nehme nur Jason: Er redet freundlich, versucht, dem [353] Jungen mit
Argumenten beizubringen, worin das Gute im Leben besteht. Und seine Worte haben
Erfolg.
Darum schrieb Jason Ranzenhofer auch so gern Reden und trug sie gern
vor, selbst wenn sie nicht von ihm stammten. Er liebte Rhetorik. War alles die Wahrheit,
was er in diesen Ansprachen sagte? Wer solche Fragen stellte, hatte von Demokratie
nichts begriffen. Es war wahr, weil es wirkte. Wirkung
ist gleichbedeutend mit Wahrheit.
In einer weißen Unterhose stand der Bote vor Jason.
»Keine Ausweisung?«, fragte Enrique.
»Nein«, erwiderte Jason und ließ seine Hände über Enriques Beine gleiten,
die schönen Beine, so weich, so glatt, so gebräunt. »Nein – Legalisierung. Ich habe
Freunde, die deine Papiere in Ordnung bringen können. Ein Anruf genügt. Dreh dich
bitte um.«
Nicht nur von vorn waren Menschen schön, auch von hinten. Die Schönheit
hatte auch eine Rückseite, so wie die Politik.
Jetzt hatte die Erregung Ranzenhofer gepackt. Es war noch keine Ekstase,
aber beinahe.
»Kann also in USA bleiben?«, hatte der
Bote noch einmal gefragt. Mit einer Angst in der Stimme, die Jason noch nicht von
ihm kannte und die ihn rührte. Er spürte seine Zärtlichkeit wachsen, wurde weich
in den Händen des Boten.
»Du bleibst hier. Das hier ist dein Land, aber jetzt dreh dich um, denn
auch von hinten bist du
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