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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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zu der Frau, Ranzenhofer konnte es
nicht verstehen. Er schaute zu Boden. Hier in Queens war er anonym.
    Im ersten Stock stiegen alle vier aus. Ranzenhofer wartete, bis das Pärchen
in einem Zimmer verschwunden war.
    Wieder schob er den Paketboten sanft vor sich
her, wie ein unwilliges Kind, bis sie ihr Zimmer erreichten.
    Viele Spiegel, ein kleiner Schreibtisch. Ein großes Bett, ein Nachtschränkchen.
Der Geruch von Putzmitteln.
    Ranzenhofer zog sein Jackett aus und hängte es über einen Stuhl. Zwei
weitere Stühle standen im Zimmer.
    Er setzte sich aufs Bett, Enrique blieb stehen.
    »Glaubst du an Gott?«, fragte Ranzenhofer.
    Der UPS -Bote nickte.
    »Ich auch«, sagte der Bürgermeister. »Meine Frau ist Jüdin, ich bin –
wie meine Eltern – Mitglied der unitarischen Kirche, aber ich gehe überallhin, Synagogen,
Moscheen, katholische Kirchen. Denn ich liebe die Menschen und jede [339]  Erscheinungsform
Gottes, gleich welcher Gestalt. Wie auch immer er sich verkleidet. Er ist mir überall
gleich lieb.«
    »Ich liebe mein Frau und mein Kind«, erklärte Enrique.
    »Natürlich«, sagte Ranzenhofer. »Aber du hast keine Papiere. Und was
ist Liebe ohne Papiere? Ein gefährliches Spiel. Setz dich doch neben mich. Dann
können wir reden.«
    Ranzenhofer klopfte mit der Hand auf die Bettdecke.
    Er hatte einen natürlichen Charme. So hieß es immer. Natürlichen Charme
und eine natürliche Autorität.
    Er operierte im Schatten, er brauchte keinen Personenschutz. Er twitterte
nicht, war kaum auf Facebook zu finden, er glaubte noch
an Privatsphäre. Er konnte sich frei bewegen, unbemerkt leben. Hohe Bäume fangen
viel Wind, er war mit seinem Status als mittelhoher Baum sehr zufrieden. Klein im
Vergleich zu den Großen, groß im Vergleich zu den Kleinen.
    »Was reden?«
    Der Bote stand an der Tür, als sei er nur hier, um ein Paket abzugeben.
    »Setz dich doch neben mich, habe ich gesagt. – Ich glaube an Gott. Schon
immer. Niemals gezweifelt. Woran sollte man zweifeln? Was soll die Alternative sein?
Kein Gott?«
    Der Paketbote stand immer noch an der Tür, doch intuitiv wusste Ranzenhofer:
Er würde nicht gehen. Als Politiker hatte er Menschenkenntnis, ein Politiker brauchte
nur die Schwächen der Menschen zu kennen.
    »Gehe jetzt«, sagte Enrique.
    Ranzenhofer stützte den Kopf auf die Hände, und immer noch sitzend, mehr
zu sich als zu dem Boten: »›Gibst [340]  du mir, geb ich dir‹ ist die Moral der Mittelklasse.
Kratz ich dir den Rücken, kratzt du mir den Rücken. Viele Leute sind mir was schuldig.
Ich wiederum bin andern was schuldig. Ich kenne mächtige Leute, hab ab und zu mal
was für sie getan, kleine Gefallen sozusagen, und ich habe bei ihnen was gut. Jetzt
ist der Moment, wo sie mir einen Gefallen tun können. Enrique, ich will, dass deine
Papiere in Ordnung gebracht werden. Für mich bist du kein UPS -Bote, kein Illegaler. Illegale gibt es zu Tausenden,
Zehntausenden, aber du bist anders, du bist eine Erscheinungsform Gottes.«
    Ranzenhofer stand auf.
    Er machte einen Schritt auf den anderen zu, und schon stand er quasi
Brust an Brust mit dem Jungen, so klein war das Zimmer.
    »Ich will dir Einblick in meine Seele gewähren«, sagte er sanft und mit Nachdruck, als habe der Bote Probleme, ihn zu verstehen.
»Du gefällst mir, ich finde dich schön. Seit ich dich
zum ersten Mal sah, habe ich davon geträumt, dich zu küssen, wie es wohl wäre, wenn
deine Lippen meine berührten.«
    Er legte seinen rechten Zeigefinger auf den
Mund des Paketboten und tippte ihm sanft auf die Unterlippe.
Dann holte der Bürgermeister einen Fettstift aus der
Hosentasche und tat sich etwas Creme auf die eigenen Lippen.
    Seit er Enrique zum ersten Mal gesehen hatte, war er sich sicher, dass
seine Lippen brennen würden. Ohne sagen zu können, warum, er wusste es einfach.
Sie würden brennen.
    »Hast du schon mal einen Mann geküsst?«, fragte Ranzenhofer.
    Der Paketbote schüttelte den Kopf.
    [341]  »Als ich noch auf der Universität war, hat mich ein Freund mal gefragt:
›Ranzenhofer, liebst du jetzt eigentlich Männer, oder liebst du Frauen?‹ Und ich
hab ihm geantwortet: ›Ich liebe Menschen.‹ Darum bin ich Politiker geworden.«
    Er cremte sich die Lippen noch einmal ein.
    »Ich dränge mich nicht gern auf«, sagte Ranzenhofer, »ich mag es nicht,
andere zu belästigen. Aber etwas in mir ist stärker als meine Grundsätze, stärker
als meine Moral.«
    Manchmal beim Redenschreiben fühlte er sich genau so wie jetzt.

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