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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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mal an«, sagt sie. »Ich seh hier grad jemanden.«
    »Meneer van Neste!«, ruft sie, obwohl das
nicht nötig ist. Sie ist nur ein paar Schritte von ihm entfernt. Sie braucht nicht
zu schreien.
    Er trägt eine Einkaufstüte. Zum ersten Mal sieht sie, dass [348]  er etwas
Schlaksiges an sich hat. Und die Hose ist ihm auch zu kurz. Dass ihr das nicht schon
früher aufgefallen ist.
    »Wie geht’s, Sylvie?«, fragt er.
    Sie steckt das Handy ein. »Nicht so besonders.« Sie schaut dem Geigenlehrer
direkt ins Gesicht. »Um die Wahrheit zu sagen, gar nicht so gut. Ist schon mal bessergegangen.«
Sie zögert, ob sie es ihm erzählen oder vielleicht lieber sagen soll: »Meneer van
Neste, ich könnte Ihre Hose richten. Vielleicht können wir den Saum ein bisschen
herauslassen. Mit einer Nähmaschine ist das im Nu erledigt.«
    Sie ist ein Mensch, der gerne mit anpackt, die Dinge verbessert, vor
allem, wenn es gar keine große Mühe kostet.
    »Was ist denn passiert?«, fragt der Geigenlehrer.
    »Die Toiletten stinken«, sagt Sylvie, als wollte sie das schon immer
mal jemandem erzählen und müsste sich jetzt endlich Luft machen.
»Sie stinken, und es passiert nichts. Überhaupt nichts.«
    »Entschuldigung, aber welche Toiletten?«
    »Ach so, ja, die in der Schule. Die Kinder an dieser Schule gehen ja
noch, aber mit den Eltern dort ist echt nichts anzufangen. So neunmalklug, so arrogant.
Prinzipien sind wichtiger als ein sauberes Klo für ihre Kinder.«
    Der Geigenlehrer zögert, scheint eigentlich in den Käseladen zu wollen,
mit seiner Einkaufstüte und der zu kurzen Hose, aber er geht nicht hinein, er zeigt
auf eine altmodische Kneipe auf der anderen Seite der Gracht. »Darf ich dich zu
einer Tasse Tee einladen?«
    Es heißt, die Mafia habe in der Kneipe einmal
jemanden liquidieren lassen. Aber deswegen kann man dort trotzdem einen Tee trinken.
    [349]  Sie schaut auf die Uhr. Noch vierzig Minuten, dann muss sie Jonathan
abholen.
    »Oder zu einem Klaren«, sagt Meneer van Neste. »Mein nächster Schüler
kommt erst in anderthalb Stunden.«
    Sie setzen sich an den Tresen und bestellen zwei junge Genever. Sylvies
Untersetzer – ein Bierdeckel – ist voller Kakaoflecken.
Sie dreht den Bierdeckel um, doch die Rückseite ist noch voller.
    Sie bestellen einen zweiten Genever. Eine Frau mit grell gefärbten Locken,
nicht mehr die Jüngste, schenkt ihnen nach.
    Und noch einen dritten. Dann legt Sylvie Meneer van Neste die Hand auf
die Schulter und meint: »Was ich jetzt sage, dürfen Sie nicht persönlich nehmen.«
    Der Geigenlehrer sieht sie traurig an, trauriger noch als zuvor. Auch
er legt ihr die Hand auf die Schulter. »Ich kann mir schon denken, was du sagen
willst. Ich hab in all den Jahren, die ich Unterricht gebe, schon alles Mögliche
erlebt. Eltern halten ihre Kinder für Geigengenies, und wenn die Erfolge ausbleiben,
liegt es am Lehrer. Aber Jonathan kann sich noch in alle Richtungen entwickeln.«
    Immer noch liegt ihre Hand auf seiner Schulter. Sie schüttelt den Kopf.
»Ihre Hose«, sagt sie, »sie ist zu kurz. Ich könnte sie ändern. Ich denke, wir könnten
den Saum etwas herauslassen.«
    [350]  12
    Der Flug von Albany nach New York dauert höchstens eine Stunde,
doch über JFK geraten sie in eine Warteschleife, zusammen
mit anderen Flugzeugen müssen sie Ehrenrunden über dem Flughafen drehen. »Sorry folks«, sagt der Pilot, »es dauert noch mindestens zwanzig
Minuten, vielleicht sogar eine halbe Stunde. Das ist New York!«
    Ranzenhofer schaut auf die Uhr. Er fürchtet, zu spät zu dem Stadtteilfest
zu kommen, das macht keinen guten Eindruck. Er überlegt, die Stewardess zu rufen
und ihr zu sagen: »Ich bin Jason Ranzenhofer, der Bürgermeister von Brooklyn, ich
habe dringende Termine, können wir keine bevorzugte Landeerlaubnis anfordern?«
    Doch das tut er nicht. Er findet es peinlich,
sich den Leuten so penetrant vorstellen zu müssen. Wenn sie ihn nicht von selber
erkennen, kann er es auch nicht ändern.
    Heute Nachmittag wird er wieder ins Boulevard Motor Inn gehen. Er freut
sich schon darauf.
    Aus seiner Tasche holt er The War Within von
Bob Woodward. »Ein aufschlussreicher Blick hinter die Kulissen der Bush-Regierung
während des Irakkriegs.« So steht es im Klappentext. Solche Bücher verschlingt er.
Sein Lesezeichen ist ein Foto von Ava und Gabe. Doch statt zu lesen, starrt er nur
auf das Foto.
    Wieder muss Jason an sein erstes Treffen mit
Enrique im Boulevard Motor Inn denken. Irgendwann hatte der

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