Mit Haut und Haaren
es aber
nicht zu fragen.
Kurz liegen sie sich in den Armen. »Soll ich hierbleiben oder nach Hause
gehen?«
»Bleib hier«, sagt sie. »Das willst du doch auch?«
»Ja«, sagt er, »das will ich auch.«
Sie schaltet das Licht aus. »Auf welcher Seite liege ich jetzt eigentlich?«,
fragt Roland.
»Auf meiner«, sagt sie. »Ich liege auf seiner.«
9
Ranzenhofer schläft schlecht in
Hotels. Schon zum dritten Mal ist er aufgewacht. Er schaltet das Licht an und schaut
auf die Uhr. Halb vier. Er schleppt sich zur Minibar, nimmt eine Dose Eistee und
trinkt sie zur Hälfte.
Er überlegt, Lea anzurufen. Wenn er mit ihr gesprochen hat, kommt er
leichter zur Ruhe. Ihre Stimme hat etwas angenehm Leierndes, das auf ihn einschläfernd
wirkt, aber um diese Uhrzeit will er sie nicht stören.
Er streichelt sich über den Bauch, er muss abnehmen. Seit er Enrique
kennt, ist er sich seiner eigenen Unzulänglichkeiten bewusst, mehr als zuvor. Im
Angesicht der Schönheit [336] fällt ein Mangel an ihr umso mehr auf. Versonnen streichelt
er sich über sein Glied, seine Hoden. Er muss an das erste Treffen mit Enrique im Boulevard Motor Inn denken. Ranzenhofer
wartete in der Lobby auf ihn. Er hatte schon eingecheckt. »Mein Name ist Jones«,
hatte er mit heiserer Stimme und leicht abgewandtem Gesicht zu der Rezeptionistin
gesagt. Doch die, eine Frau mittleren Alters mit Brille, die in einem Glaskasten
saß, vermutlich zum Schutz gegen Raubüberfälle, schien sein Name gar nicht zu kümmern.
»Bleiben Sie die ganze Nacht oder nur ein paar Stunden?«, hatte sie bloß gefragt.
Die Lobby des Hotels war ausgestattet mit einem großen Spiegel, einem
schwarzen Kunstledersofa nebst Sessel und einer Südamerikanerin, die Ranzenhofer
für eine Prostituierte hielt, sowie einem Getränkeautomaten.
Zu Ranzenhofers Erstaunen hatte die Prostituierte ihn nicht im Geringsten
beachtet. Sie saß einfach nur da, und nach ein paar Minuten fielen ihr die Augen zu.
Nach circa einer Viertelstunde war Enrique in seiner UPS -Uniform erschienen.
Unmenschlich, es gibt eine Schönheit, die unmenschlich ist.
»Setz dich«, sagte Ranzenhofer zu dem immer noch stehenden Enrique.
»Noch nicht alles in Ordnung?«, fragte der.
Er hatte Enriques Hand genommen und ihn sanft auf
das Sofa gezogen.
Außer der Prostituierten und der Frau hinter Glas war niemand sonst in
der Lobby.
Ranzenhofer ließ Enriques Hand los, und mit weicher, [337] aber eindringlicher
Stimme sagte er: »Es geht nicht um eine Beschwerde, es geht um Hilfe.«
»Hilfe nicht nötig«, sagte Enrique. »Wirklich
nicht.«
Ranzenhofer nahm wieder die Hand des Paketboten. Er näherte sich einem
Mysterium, kein Zweifel, etwas Ehrfurchtgebietendem, das er nicht verstand und auch
nicht verstehen wollte.
»Ich bin in die Politik gegangen, um Menschen zu helfen, aber die Politik
ist abstrakt, man sieht die Menschen nicht, denen man hilft.
Verstehst du?«
Er sah den Paketboten an, doch der schien ihn nicht zu verstehen. So
viel jugendliche Schönheit war eigentlich Sünde. Verbrechen.
»Gehen wir nach oben, da können wir ungestört
reden.«
Er warf einen Blick auf die Frau hinter Glas, doch die beachtete ihn
nicht. Sie telefonierte.
Die Augen der Prostituierten waren noch immer geschlossen.
»Wie, nach oben?«
»Nach oben, hier«, sagte Ranzenhofer. »An einen Ort, wo wir ungestört
reden können. Nur wir zwei.«
»Nicht reden«, sagte der Bote. Er riss seine Hand los.
»Jetzt hör mir mal zu«, sagte Ranzenhofer mit noch weicherer Stimme als
vorher. »Ich kenne deine Geschichte, sie ist uralt. Du bist ein Mann ohne Papiere.
Das ist nun mal so.«
Ranzenhofer stand auf, ebenso der Junge. Sanft schob
der Bürgermeister ihn in die Richtung, wo er den Aufzug vermutete. Nach einigem
Suchen fand er ihn.
Als die Fahrstuhltüren endlich aufgingen, standen im [338] Lift ein Mann im Anzug und eine Frau in Jeans, die für ihr Alter
zu eng anliegend waren. Die beiden stiegen nicht aus.
Sanft schob Ranzenhofer Enrique vor sich in
die Fahrstuhlkabine.
Jason starrte zu Boden. Zärtlichkeit war wichtig. Nicht, dass er sich
für einen besonders zärtlichen Mann hielt, aber vielleicht war das als Mann auch
nicht nötig, ein guter Mensch aber war er bestimmt. Gut zu seinen Kindern, gut zu
seiner Frau, gut zu den Wählern. Innerhalb der Grenzen des Machbaren natürlich.
Die Gleichgültigkeit der Welt war gigantisch, aber man durfte nicht aufhören, sie
zu bekämpfen.
Der Mann sagte etwas auf Spanisch
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