Mit Haut und Haaren
Der Geist
kam dann über ihn, so nannte er das, kam über ihn und riss ihn mit.
Der Junge schaute verlegen zu Boden. Ja, er war mehr Junge als Mann,
vor allem von nahem.
»Was ist gerecht?«, flüsterte Ranzenhofer.
»Gibt es Gerechtigkeit ohne eine Form von Gewalt? Wie soll die Gerechtigkeit siegen,
wie sich je anders durchsetzen? Deine Papiere sind falsch. Dein Leben ist auf Lügen
gebaut. Ist das fair?«
Und während er das sagte, zweifelte er nicht mehr daran: Er war ein guter
Mensch. Er half jemandem. Dass er dafür eine kleine Gegenleistung verlangte, war
in dieser Welt mehr als normal.
Er flüsterte dem Boten ins Ohr: »Du weißt,
was Leuten mit falschen Papieren blüht? Gefängnis. Ausweisung.«
Und obwohl Jason dem Jungen so nah war, spürte er keine Freude, sondern
nur Schmerz.
Behutsam presste er seinen Mund auf die Lippen des Boten.
[342] 10
Sie hat Mühe, ihn wach zu bekommen, schon zweimal hat sie seinen
Namen geflüstert, aber Roland schläft weiter. Sanft rüttelt sie ihn
an der Schulter, da öffnet er endlich die Augen.
»Was ist?«, fragt er. »Wie spät ist es?«
Er schaut besorgt, als hätte er verschlafen, als warteten in Fairfax
jetzt Studenten auf ihn.
»Es ist sechs Uhr«, flüstert sie, »vielleicht
solltest du langsam gehen, zwischen halb sieben und sieben werden die Kinder wach,
und ich glaube, das ist kein guter Moment, sie zu treffen.«
Sie ist schon im Morgenmantel.
Er setzt sich auf. »Nein«, sagt er, »du hast recht. Das ist kein guter
Moment.«
»Möchtest du vielleicht einen Tee oder Kaffee?«
»Mach dir keine Umstände.«
Er steht auf. Sucht etwas auf dem Boden. Schaut unters Bett. Ein Spürhund,
denkt sie. Sie muss grinsen von dieser Vorstellung. Der Spürhund hat seine Unterhose
gefunden. Schnell und ohne merkbare Scham zieht er sich an.
»Möchtest du Joghurt mit Früchten?«, fragt sie.
Immer noch spricht sie leise, aus Angst, die Kinder zu wecken.
Er schlüpft in Socken und Schuhe.
»Ich esse morgens immer Joghurt mit Früchten. Kann ich dir auch empfehlen,
schmeckt sehr gut. Selbstgemacht. Nicht der Joghurt, aber die kleingeschnittenen
Früchte.«
[343] Er steht auf. Kurz streichelt sie ihm mit zwei Fingern über die Wange.
Sie hätte gedacht, dass sie sich glücklicher fühlen würde. Nach dem Seitensprung
mit Durano hatte sie sich erleichtert gefühlt. Zwar mehr wegen der Tatsache, dass
es nun endlich geschehen war, doch auch eine solche Erleichterung ist ein schönes
Gefühl.
»Ich esse mit dir«, sagt sie, wie um ihn zu überreden.
»Wenn’s dir wirklich keine Umstände macht.«
Sie geht in die Küche, öffnet den Kühlschrank,
holt Joghurt heraus und zwei Pfirsiche, die sie in kleine
Stücke schneidet.
»Wann kommt dein Mann eigentlich wieder?«, fragt er.
»Am späten Vormittag.«
Sie gießt den Joghurt in zwei Schälchen. Eigentlich hat sie keinen Grund
zu klagen. Es war angenehm. Vielleicht hatte sie gehofft,
dass Roland endlich aufgehen würde, ein besseres Wort hat sie nicht dafür. Aufgehen
wie ein Theatervorhang, doch selbst als er nackt durch ihr Schlafzimmer spazierte,
hatte sie noch den Eindruck, er könne jeden Moment vor einem vielköpfigen Auditorium einen Vortrag über illegale Preisabsprachen
vom Stapel lassen.
Er setzt sich auf denselben Barhocker wie am Abend zuvor, als er ihr
Paul Celan vorlas.
Sie gibt die kleingeschnittenen Pfirsiche
in den Joghurt und schiebt ihm ein Schälchen hin.
»Ich werd dir ein Taxi bestellen«, sagt sie.
Er isst aufmerksam, sie sieht, wie er ein Stück Pfirsich auf seinem Löffel ein paar
Sekunden betrachtet, und starrt ihn ihrerseits an, als wolle sie sein Essverhalten
studieren. Sie selbst isst kaum etwas.
[344] »Hast du heut viel zu tun?«, fragt sie.
»Heute Nachmittag halte ich eine Vorlesung«, sagt er. »Adam Smith. Kannst
du dir vorstellen, dass es an meinem Institut mittlerweile Studenten gibt, die nicht
mal mehr wissen, wer Adam Smith war? Sie glauben, unsere ganze Wissenschaft erschöpft sich in ein paar mathematischen
Formeln.«
Er wischt sich den Mund mit einer Papierserviette ab. Er scheint keine
Antwort zu erwarten, auch nicht zu wissen, wohin mit der Serviette. Er knüllt sie
zusammen und steckt sie sich in die Tasche.
Sie ruft ihm ein Taxi.
Unterdessen bleibt Roland auf seinem Barhocker sitzen, äußerlich ruhig,
und doch wirkt er nicht entspannt. »Und was machst du heute?«, fragt er, als sie
zu Ende telefoniert hat. »Wie weit bist du mit deinem Buch?«
»Zu
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