Mit Haut und Haaren
der Vergangenheit. Wenn nicht gar
ausschließlich.« Es klingt bissiger, als es gemeint war. Er hatte sich vorgenommen,
zu Leas Mann freundlich zu sein.
Roland trinkt noch einen Schluck Cognac. Das Zeug muss weg.
»Genau«, sagt Leas Mann, »gut gesagt. Ich verstehe nichts von Wirtschaft, dafür hab ich meine Leute, aber ich frage mich – nicht
dass mich das Thema langweilt, ich könnte stundenlang
darüber reden, aber: Wie macht ihr das nun – du wohnst in den USA und deine Frau in den Niederlanden, nicht wahr?«
»Wir führen eine Fernbeziehung«, sagt Sylvie.
»Und das geht mit dem Kind?«
»Wir ichatten«, sagt Roland. »So kann er mich sehen und hören.«
[390] Er lächelt gewinnend, um die abweisende Antwort von eben wiedergutzumachen.
»Ich wollte schon immer Kinder«, sagt Ranzenhofer. »Aber nicht zum iChatten.
Meine Frau hätte damals gern noch ein wenig gewartet, aber ich hab zu ihr gesagt:
›Jetzt oder nie! Musst du den Völkermord eben eine Weile ruhen lassen.‹ Ich finde Kinder herrlich. Ich lebe für sie. Am liebsten hätte
ich noch eins.«
Leas Kopf lehnt noch immer an seiner Schulter. Sie scheint das Gespräch
nicht mitzuverfolgen.
»Bist du eigentlich schon amerikanischer Staatsbürger?«, fragt Jason
Ranzenhofer Oberstein plötzlich.
»Ich bin mit einem Visum im Land.«
»Aber du möchtest doch hierbleiben?«
»Die George Mason gefällt mir, ja.«
»Immer noch keine Green Card?«
»Ich bin mit einem Visum hier.«
Ranzenhofer steht auf und kommt mit einer Visitenkarte zurück, die er
auf den Tisch legt. Auf die Rückseite schreibt er eine Telefonnummer, dann legt
er Roland erneut seine große, warme Hand auf die Schulter.
»Solltest du irgendwann mal eine Green Card brauchen, musst du mich anrufen.
Ich habe Kontakte. Denn seien wir ehrlich, Europa ist schön, aber doch eher ein
Museum. Schön im Sommer. Paris, Rom, Venedig, Mailand zum Einkaufen. Sarajewo für
die Geschichte. Auschwitz für den Völkermord. Die Niederlande für verpickelte Prinzessinnen.
Politischen Experten zufolge gehört China die Zukunft,
ich bin kein Experte, aber meine Meinung ist: Die Zukunft liegt
hier, hier in den USA .«
[391] Roland dankt freundlich für das Angebot und steckt die Visitenkarte
ein.
Jason setzt sich wieder an den Tisch neben Lea.
Ohne jemanden anzusehen, erklärt sie: »Das sagt er, weil Völkermord ihn
immer so mitnimmt: reiner Selbstschutz.«
Dann schaut sie ihren Mann an und sagt: »Dein Hemd ist schief geknöpft.«
Er blickt auf die Knopfleiste. »Du hast recht.« Er lächelt einnehmend.
»Einem Präsidenten würde man so was nicht durchgehen lassen, aber bei einem Bürgermeister
macht es nichts aus. Das ist das Schöne an meinem Beruf. Ich stehe nicht im Rampenlicht,
ich arbeite im Schatten der Macht, von da aus kann man auch viel erreichen.«
9
Um fünf Uhr am Morgen wird Mevrouw Oberstein wach. In ihrem
Bad tropft es noch immer.
Sie zieht ihren Bademantel an, geht zum Telefon hinunter, und zum siebten
Mal in der Nacht spricht sie ihrem Sohn auf die Mobilbox: »Ich sitze im Schlamassel«,
sagt sie, »aber an dir hab ich wieder mal keine Hilfe. Von dir aus kann ich verrecken.
Du lässt mich im Stich. Das hast du schon immer getan, schon als kleiner Junge,
und jetzt ist da noch dein verdammter Bengel. Es ist nicht schön, das über den eigenen
Enkel sagen zu müssen, aber er ist kein richtiger Junge, er hat was Weibisches.«
[392] Damit legt sie auf und bleibt am Telefon sitzen, darauf wartend, dass
jemand zurückruft.
10
Jason sitzt am Tisch und blättert in seinem Terminkalender.
»Wie fandest du sie?«, fragt Lea.
»Komisches Pärchen«, sagt er. »Eine Fernehe, so was gibt es doch gar
nicht, das kann nicht funktionieren. – Das Kokoseis war übrigens köstlich, ist noch
was da?«
»Ja«, sagt Lea, »aber ich wollte es eigentlich für morgen aufheben, für
die Kinder.«
Die Schälchen stehen immer noch auf dem Tisch. Eine tüchtige Hausfrau
war Lea noch nie. Ab und zu kann sie sich für eine Geburtstagstorte ins Zeug legen
oder Kokoseis machen, aber für die alltäglichen Verrichtungen war sie sich immer
zu gut.
Jason schaut von seinem Terminkalender auf.
»Warum räumst du nicht ab?«, fragt er.
»Ich denke nach«, antwortet Lea.
»Worüber?«
»Über uns.«
»Und was denkst du? Wenn du über uns nachdenkst?«
»Ich denke, dass es so nicht weitergehen kann.«
»Was kann so nicht weitergehen?«
»Wir. Unsere Ehe.«
[393] »Denkst du etwa an
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