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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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davontragen. Was macht das noch? Darauf kommt es jetzt auch nicht mehr
an.
    [423]  Sie sagt: »Du machst es gut, es ist schön mit dir«, ohne zu wissen,
ob sie das sagt, um ihm einen Gefallen zu tun oder weil sie es ernst meint.
    Er hat fast keinen Körpergeruch. Sie riecht nur sein Deodorant.
    Nach zehn Minuten fragt sie: »Möchtest du
noch von hinten?«
    »Ja«, murmelt er, doch macht er keine Anstalten dazu, vögelt vielmehr
noch ein paar Minuten unverändert so weiter, bis er schließlich kommt.
    Manchmal braucht er schon ziemlich lang, findet
sie.
    Roland geht von ihr herunter und fragt: »Möchtest du Wasser?« Ohne auf
Antwort zu warten, geht er zum Waschbecken und kommt mit einem vollen Glas wieder.
    Sie nimmt einen Schluck und gibt es ihm schnell zurück. Mehr noch als
ihres in Brooklyn schmeckt dieses Leitungswasser nach Chlor.
    Vom Nachttisch nimmt er sein Handy, um auf die Uhr zu sehen.
    »Wie lang habe ich noch?«, fragt sie.
    »Zehn Minuten«, sagt er. Es klingt wie ein Scherz, aber sie weiß, er
meint es ernst.
    Sie schaut zur Decke – schöne alte Stuckaturen, wie sie heute nicht mehr
gemacht werden. Dann wandert ihr Blick zu dem nackten Mann neben sich. Er mustert
den Stapel Bücher auf seinem Nachttisch. Der Stapel ist ziemlich hoch. Er kann jeden
Moment umfallen.
    »Ich hab kürzlich Primo Levis eigenes Buch noch mal gelesen«, sagt er,
während er den Stapel weiter durchsucht. Sie betrachtet seinen Rücken. Sie kann
die Muttermale [424]  zählen. »Ich muss einen Artikel über Wirtschaft und Völkermord schreiben, und darin zitiere ich ihn. Kannst
du dich an die Figur Henri aus Ist das ein Mensch? erinnern?«
Er dreht sich zu ihr. »Eine der faszinierendsten Figuren in Levis Universum«, sagt
er, »vielleicht der gesamten Lagerliteratur überhaupt.«
    Endlich hat Roland das Buch gefunden. Er nimmt es zur Hand und beginnt
vorzulesen: »Henris Theorie zufolge gibt es drei Methoden, der Vernichtung zu entgehen,
die der Mensch anwenden und dabei des Namens Mensch würdig bleiben kann: organisieren,
Mitleid erwecken und stehlen. Er selbst praktiziert alle drei.«
    Wenn er auf Deutsch vorliest, findet sie seine
Stimme schöner, sein Deutsch ist erregender.
    »Warum liest du mir das vor?«, fragt sie. Sie zieht sich die Decke etwas
höher. »Warum jetzt?«
    »Offensichtlich«, sagt Roland, »hat Henri
das Lager genau analysiert und durchschaut, und doch kann Levi keine Sympathie für
ihn aufbringen, das verstehe ich nicht.« Er schlägt das Buch wieder auf und liest
weiter: »Mit Henri zu sprechen, ist förderlich und reizvoll. Manchmal meint man
sogar, bei ihm etwas von Wärme und Nähe zu spüren, und es scheint eine Gemeinsamkeit,
vielleicht sogar eine Zuneigung möglich zu sein; man glaubt, den menschlichen, leidenden
und bewußten Untergrund seiner nicht alltäglichen Persönlichkeit wahrzunehmen. Aber
schon im nächsten Augenblick gefriert sein trauriges Lächeln zu einer eisigen, wie
vor dem Spiegel einstudierten Grimasse. Dann empfiehlt
er sich höflich (›… j’ai quelque chose à faire‹, ›j’ai quelqu’un à voir‹) und schon
hat er sich wieder [425]  ganz seiner Jagd und seinem Kampf verschrieben: hart und unnahbar,
verschlossen in seinem Panzer, ein Feind aller« –soll heißen: alles Menschlichen,
fügt Roland hinzu –, »unmenschlich schlau und unbegreiflich wie die Schlange in
der Genesis. Nach allen Unterhaltungen mit Henri, auch nach den herzlichsten, empfand
ich stets einen leichten Nachgeschmack von Niederlage; und den ungewissen Verdacht,
daß auch ich in irgendeiner Weise und unbemerkt nicht ein Mensch vor ihm gewesen
sei, sondern ein Werkzeug in seiner Hand. Heute weiß ich, daß Henri am Leben ist.
Mir wäre viel daran gelegen, zu wissen, wie er als freier Mensch lebt, aber wiedersehen
möchte ich ihn nicht.«
    Sie steht auf und zieht ihren Slip an. Erst hatte er es so eilig und
konnte absolut keinen Sex mit ihr machen – für Levi jedoch hat er plötzlich sehr
wohl Zeit. Ein weiteres Mal wird ihr bewusst, wo seine Prioritäten liegen.
    »Du kannst nicht verstehen«, fragt sie, »dass Levi keine Sympathie für
den Feind der Menschlichkeit aufbringt?«
    Sie zieht ihren BH an.
    »Ich verstehe nicht, warum er Henri als einen Feind alles Menschlichen
ansieht. Warum ihn? Ein Opfer, ein Gefangener wie er. Es gab doch bessere Kandidaten
für diesen Titel? Meiner Meinung nach fällt Levi ein unnötig hartes Urteil.«
    Sie schlüpft in ihre Jeans.

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