Mit Haut und Haaren
»Wahrscheinlich
weißt du«, sagt sie, »dass dieser Henri unter eigenem Namen, Paul Steinberg, glaube
ich, selbst ein Buch geschrieben hat? Mir fällt grad der Titel nicht ein.«
»Das wusste ich nicht«, antwortet Roland.
»Memoiren?«
Sie zieht ihren Pullover an. Jetzt steht auch er auf.
[426] »Ich werd den Titel für dich heraussuchen«, sagt sie. »Kein Roman.
Du musst es mal lesen. Ich wusste nicht, dass dieser Henri dich interessiert.«
Er zieht seine Shorts an, dann die Hose und zuletzt seine Socken. »Meiner
Meinung nach hat Henri das Lager mit den Augen eines Ökonomen betrachtet«, sagt
Roland.
»Ökonomen sind also die Feinde der Menschlichkeit?«, fragt sie, während
sie sich jetzt auch die Socken anzieht. »Darf ich kurz deine Toilette benutzen?«
»Wie Henri haben auch Ökonomen mit Vorurteilen zu kämpfen«, ruft Roland ihr hinterher.
Im Bad betrachtet sie die Gegenstände auf der Spiegelablage. Aftershave, eine Nagelschere, Rasierschaum, Deodorant.
Als sie von der Toilette zurückkommt, steht Roland vollständig angezogen,
sogar schon im Mantel da.
»Ich muss zum Flughafen«, sagt er. »Kann ich dich irgendwo absetzen?«
Sie schüttelt den Kopf. »Ich nehme die U-Bahn«, sagt sie. »Ich muss zu
meinen Kindern.«
»Du siehst bedrückt aus«, sagt er.
»Meinem Großvater geht es nicht gut. Seine Demenz nimmt immer mehr zu.
Ich mache mir Sorgen.«
Er lächelt, scheint sie kurz berühren zu wollen, lässt es aber dann sein.
Vor dem Haus küsst sie ihn vorsichtig auf den Mund, als sei das im Grunde
verboten. Doch sie weiß nicht, ob sie ihn darum so vorsichtig küsst oder weil sie
den Eindruck hat, dass er ihre Küsse unangenehm findet.
[427] 21
Jason Ranzenhofer beugt sich zu seiner Lieblingssekretärin
hinunter und flüstert ihr ins Ohr: »Es gibt doch solche
Mittel, die man sich in die Haare massiert, damit sie besser wachsen, nicht wahr?«
»Soviel ich weiß, ja«, antwortet sie.
»Wissen Sie von einem dieser Mittel den Namen?«
»Nein«, sagt sie, »aber ich kann es für Sie heraussuchen, Mister Ranzenhofer.«
»Vielen Dank«, sagt er, »das ist lieb von Ihnen«, und legt ihr kurz die
Hand auf die Schulter. Im Weggehen ruft er ihr noch zu:
»Heute Abend ist Party!«
22
Violet hat eine Weile auf ihren Koffer
gewartet, und an der Passkontrolle war ebenfalls eine lange Schlange, doch endlich
steht auch sie in der Ankunftshalle.
Erst kann sie Roland nirgends entdecken. Er stellt sich nie in die erste
Reihe, bleibt immer ein wenig im Hintergrund, als sei Leute vom Flughafen abholen
etwas Beschämendes.
Endlich entdeckt sie ihn. Er steht am Fenster, er liest ein Buch. Sie
umarmt ihn.
Roland fragt das Übliche, wie der Flug war, ob sie schlafen konnte, wer
neben ihr saß.
[428] Sie gehen zu den Taxis.
»Ich hab Meneer Bär dabei«, sagt sie. »Er ist nicht mehr der Jüngste,
durfte aber trotzdem mitkommen.«
Meneer Bärs Kopf schaut aus dem Handgepäck.
»Wie schön«, sagt Roland. Irgendwie findet
er Meneer Bär eine angenehme Gesellschaft.
Mit dem Taxi brauchen sie fast eine Stunde zu seiner Wohnung. Gegen seine
Schulter gelehnt, fallen ihr während der Fahrt für ein paar Minuten die Augen zu.
Er will den Koffer für sie die Treppe hinauftragen,
aber sie meint: »Lass nur, das mach ich schon.« Oben angekommen, inspiziert sie,
ohne die Jacke auszuziehen, als Erstes die Wohnung, wo sie längere Zeit nicht mehr
war.
»Was ist das?«, fragt sie und hält ein Buch hoch. Ente, Tod und Tulpe, offensichtlich
etwas für Kinder.
»Ein Geschenk von jemandem«, sagt Roland. »Möchtest du etwas trinken?
Ehrlich gesagt gibt es nur Leitungswasser.«
»Leitungswasser ist prima, Liebling«, antwortet sie.
Er füllt ihr ein Glas.
»Was möchtest du machen?«, fragt er. »Schlafen, essen, spazieren gehen?
Duschen vielleicht?«
»Reden«, sagt sie. »Und kurz mal knuddeln, bloß knuddeln. Ach so, Moment,
ich hab was für dich.«
Im Handgepäck unter Meneer Bär findet sie
die Pralinen.
Sie setzt sich auf einen Stuhl, während er die Karte an dem Geschenk
liest. »Für den Liebsten der Lieben«, hat sie darauf geschrieben.
»Wie rührend«, sagt er. »Wirklich sehr lieb.«
Er küsst sie, nicht auf den Mund, sondern aufs Ohr.
[429] Er öffnet die Schachtel. Sie essen beide
eine Praline.
Überall auf dem Boden stehen Stapel von Büchern. »Brauchst du nicht mal
ein zusätzliches Bücherregal?«
»Irgendwann schon.«
»Soll ich dir eins aussuchen?«
»Mach keine
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