Mit Haut und Haaren
zwei Jahren. Die Kinder kamen dazwischen. Das zweite war nicht geplant, und
mit dem ersten hätte sie lieber noch etwas gewartet.
Doch ihr Mann ist verrückt nach Kindern, und er ist Politiker. Er hatte
zu ihr gesagt: »Warten wir nicht länger. [59] Und für meine Karriere ist es auch gut.
Die Wähler wollen einen fruchtbaren Kandidaten. Sie wollen ihre Stimme einem Familienmenschen
geben, einem mit Kindern, besser gleich zwei, und einer Frau. Dem sie vertrauen
können.«
»Auch in Brooklyn?«, hatte Lea noch gefragt.
»Gerade in Brooklyn«, hatte ihr Mann geantwortet. »Manche Werte sind
wirklich universell.«
Endlich vibriert ihr Handy. »Kommunizieren morgen weiter«, schreibt Oberstein.
»Kannst du nicht schlafen?«
»Hat es dich mitgenommen?«, schreibt sie zurück. »Gehst du auch fremd?«
Mit dem Mobiltelefon in der Hand läuft sie
ins Badezimmer zum Pinkeln. Danach bleibt sie auf der Toilette sitzen.
Die Neonröhre über dem Spiegel verbreitet ein klinisches Licht, über
das sie sich schon ein paarmal geärgert hat: als müsste jemand operiert, müssten
Poren untersucht, Mitesser professionell ausgedrückt werden.
Ein Spiegel in einem Hotelzimmer darf die Gäste nicht unnötig verunstalten.
Das Gerät in ihren Händen vibriert.
»Früher schon, jetzt nicht mehr«, schreibt Roland zurück. »Keine Zeit.
Zu viel zu tun. Gehen wir schlafen. Morgen um 9 Frühstück.«
»Morgen um 9 Frühstück«, bestätigt sie. »Möchtest du kurz mit mir kuscheln?«
Das Mobiltelefon in der Hand, denkt sie an ihre Kinder, ihr Buch, ihren
Großvater und an die Antwort, auf die sie wartet. Sie bleibt im Bad sitzen.
Es dauert mindestens fünf Minuten. »Netter Vorschlag«, antwortet Oberstein,
»jetzt aber zu müde. Versuche, [60] dringende E-Mails von Studenten zu beantworten.
Andermal gern. Morgen um 9 Uhr zum Frühstück.«
Lea steht auf und kramt in ihrer Tasche, bis sie endlich Sven Duranos
Karte in der Hand hält.
Immer noch vor dem Spiegel, schickt sie ihm eine Nachricht. »Hallo Sven,
wo bist du? Immer noch auf der Party? Lea.«
Die Antwort kommt beinah sofort. »Party jetzt erst richtig in Schwung.
Schlimmste Holocaustspezialisten gegangen, nette geblieben. Komm doch auch.«
Sie tippt: »Ich lieg schon im Bett.«
»Nimm Taxi«, antwortet Sven. »Musik schrecklich, Stimmung genial.«
Sie zieht sich an, trägt im Bad eilig Lippenstift
auf, nimmt den Fahrstuhl nach unten.
Die Rezeption ist nicht besetzt.
Zwei Gäste kommen von draußen herein.
»Wo gibt es hier einen Taxistand?«, fragt sie.
Die Gäste schauen sie breit lächelnd an, antworten ihr aber nicht.
Wie ein Vogel flattert Lea durch die nächtliche
Stadt auf der Suche nach einem Taxi.
Die Party ist weniger aufregend, als Sven ihr versprochen hat, doch dafür
ist er direkt. Nach anderthalb Martini fragt er: »Kommst du mit auf mein Zimmer?«
Die Konferenzteilnehmer sind in drei verschiedenen Hotels untergebracht,
doch Durano wohnt auch in ihrem: Zimmer 415.
Im Taxi erzählt er von seiner Freundin und dass sie Vereinbarungen haben.
[61] »Was für Vereinbarungen?«, fragt sie.
»Vereinbarungen eben«, sagt er und streichelt ihr über die Wange. »Manche
Leute treffen Vereinbarungen.«
Seit neun Jahren hat sie mit niemand anderem geschlafen als mit ihrem
Mann. Einmal auf der Straße hat sie jemanden geküsst, einen Übersetzer aus dem Jiddischen,
doch das war’s auch schon. Er schmeckte nach Zwiebeln.
Zimmer 415 ist genauso eingerichtet wie ihres.
Während Durano sich die Schuhe auszieht, fragt sie: »Darf ich kurz mal
dein Bad benutzen?«
Auch das Bad ist mit dem auf ihrem Zimmer identisch. Sie pinkelt, kontrolliert
ihren Slip und betrachtet sich noch einmal kritisch im Spiegel. Dann verlässt sie
den Raum.
Sie erwartet, dass etwas geschieht, etwas Schreckliches, Alttestamentarisches,
jetzt, da sie mit einem Mann im Bett liegt, der nicht der ihre ist. Doch es geschieht
nichts, schon gar nichts Alttestamentarisches.
Sven Durano ist attraktiv, zärtlich genug, hat Erfahrung und ist vor
allem entschlossen. Trotzdem käme sie bei ihm nie auf den Gedanken zu sagen: »Rette
mich.«
Als es vorbei ist, beschließt sie, lieber bei sich im Zimmer zu schlafen.
Während sie sich anzieht, sagt Sven Durano: »Ich fand die Konferenz nützlich,
vor allem deinen Vortrag fand ich ausgesprochen interessant!«
[62] 5
Um neun Uhr betritt Roland Oberstein den Frühstücksraum. Die
meisten Gäste haben offenbar schon gefrühstückt. Doch
in
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