Mit Haut und Haaren
Lea.
Roland steht auf, geht zum Buffet, denkt an
Violet. Er fragt sich, ob er jetzt Eifersucht empfindet,
doch die wäre nicht kontrolliert, ließe sich nicht bändigen, nach Aussagen derer,
die es wissen müssen. Er kommt mit einem Schokocroissant zurück. Sein Kaffee ist inzwischen eingetroffen.
Mit langen Zähnen beißt er in das Croissant, er fühlt sich verpflichtet, das Ding, wo er es schon einmal geholt hat, nun auch
zu essen.
»Ich hätte dich nicht mit diesen Aventüren belasten dürfen«, sagt er
und nimmt einen Schluck Kaffee.
»Es hat mich nicht gestört«, antwortet Lea. »Ich finde es sehr unterhaltsam.«
Sie rührt in ihrem Joghurt. »Was meinst du? Soll ich Honig hineintun?«
»Warum nicht? – Aber so abenteuerlich ist das Ganze nun auch wieder nicht,
kann man da wirklich von Aventüren reden?« Er ist sich nicht mehr so sicher. Aventüren,
was für ein Wort. Ein bisschen kurios in diesem Zusammenhang. Er kennt die Art Leute,
die solche Worte benutzen, vor allem männliche Kollegen, Männer, die vorgeben, über [66] allem zu stehen. Ironie ist ihre Waffe, die Vermeidung
jeglichen Schmerzes ihr Ziel.
Er legt das an den Tag, was seine Studenten erwarten: Eine gewisse Reserviertheit,
Sprödigkeit, einen gewissen Sarkasmus, gespielt und doch vollkommen echt – unvermeidlich,
wenn man den Lehrstoff zum zehnten Mal durchkaut –, aber
auch Begeisterung. Wissenschaftlichen Ehrgeiz. Irgendwann
wurden seine Seminare immer theatralischer, bis er einsah, dass er übertrieb.
Theatralischer geworden ist er vermutlich auch in der Liebe. Stürmischer.
Doch wenn er darüber nachdenkt, was das Wort »stürmisch« eigentlich bedeutet, kommen
ihm Zweifel. Nein, er liebt so, wie er lehrt: gründlich, nicht ohne Einsatz, doch
immer mit dem Blick auf die Uhr. Nie hat er sich für einen phantastischen Liebhaber
gehalten – was ihn nicht verunsichert: Er weiß, dass der Ehrgeiz, jemand sein zu
wollen, der man nicht ist, nur zu Leiden für alle Beteiligten führt.
Er will eine wichtige Rolle als Ökonom spielen, geschätzt und respektiert
von seinen Kollegen. Nicht von allen natürlich, nur von denen, die er selbst respektiert.
»Soll ich Honig hineintun?«, fragt Lea noch einmal. »Ich weiß nicht so
recht.«
Er nickt, ohne sie richtig verstanden zu haben.
Wenn Glück die Abwesenheit von Leiden ist, dann ist Liebe, die zu Leiden
führt, eine ihm unverständliche Form von Unglück, deren Verherrlichung in der Kunst
ihm ein Greuel ist, ja, die ihn regelrecht empört. Einmal hat er mit einer Theaterwissenschaftlerin darüber geredet, einer Frau, die zusammen mit ihm Ökonomie
studiert hatte, dann [67] jedoch auf Abwege geriet – so sieht er das jedenfalls –
und Theaterwissenschaften studierte, wo sie sich mit
einigem Fanatismus dem Frauenbild der deutschen Nachkriegsdramatik verschrieb. Jetzt
eine Bekannte, früher eine Freundin. Linde heißt sie. Sie hat ihm auch das Buch
von Walter Benjamin geschenkt, bei Leuten wie ihr paart sich fanatische Liebe zur
Kunst häufig mit schwärmerischer Benjamin-Verehrung,
gelesen vorzugsweise im Original. »Was bringt diese sogenannte hohe Literatur dem
Leser?«, hatte er Linde gefragt. »Abwechslung. Okay. Aber das bietet der normale
Hollywoodfilm auch. Erkenntnis? Kann man die nicht auf
andere, effektivere Weise gewinnen? Was ist der Nutzen
der sogenannten hohen Literatur? Warum sollen die Leute das lesen? Leiden sie selbst
nicht schon genug?«
An Lindes Antwort kann er sich nicht mehr erinnern, er weiß nur noch,
dass er in höhnisches Gelächter ausbrach, sie aber trotzdem beschlossen, weiter
Kontakt zu halten.
»Ob Fremdgehen ein Abenteuer ist? Um auf dieses Wort zurückzukommen:
Ja, ich glaub schon«, sagt Lea. »Ein Abenteuer.«
Auf dem Tisch stehen drei Minigläser Marmelade und ein Gläschen mit Honig.
Mühsam versucht sie, den Honig zu öffnen. Er will ihr
das Glas gerade aus der Hand nehmen, um es zu öffnen,
als sie es alleine schafft.
Was bringt ihm Violets Fremdgehen? Abwechslung. Schon möglich. Auch Aufregung
kann eine Form von Abwechslung sein. Aber lässt es ihn leiden? Leidet er jetzt?
Er denkt öfter daran, als ihm lieb ist, das stimmt. Der
Mangel an Kontrolle über die Bilder in seinem Kopf ließe sich vielleicht als leichtes
Leiden interpretieren.
[68] Was bringt es mir? Oder: Was bringt es uns? Hierum dreht sich alles,
auch wenn die Sentimentalität das allzu oft zu verdrängen
versucht. Schon von Berufs wegen sollte er fromme Lügen
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