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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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diesem Hotel sind sie nachlässig mit dem Abräumen. Andere Konferenzteilnehmer
sind nicht zu sehen. Einige sind gestern Nachmittag schon gefahren. Auf Abschiedsumtrunk
und Party haben sie verzichtet. Und diejenigen, die noch da sind, frühstücken anscheinend
gern zeitig oder schlafen noch. Ohne lange nachzudenken, setzt er sich an den Tisch,
an dem er am Vorabend mit Lea eine Weile gesessen hat.
    Er winkt einer Kellnerin. Erst nach dem zweiten Versuch bequemt sie sich
zu ihm.
    »Könnten Sie den Tisch hier wohl abräumen?«, fragt er. »Es kommt noch
jemand.«
    Die Kellnerin fragt nach seiner Zimmernummer und beginnt mit deutlichem
Widerwillen, das Geschirr zusammenzuschieben. Als sie damit so gut wie fertig ist,
sagt sie plötzlich: »Sie hätten sich auch an einen anderen Tisch setzen können,
wo noch gedeckt war.«
    »Ja, das hätte ich machen können«, antwortet er.
    Dann sieht er Lea hereinkommen. Erst lacht er sie an, dann winkt er.
Sie hat eine Tasche dabei. Sie schleppt sich damit ab, als wären Steine darin.
    Warum bringt sie ihre Tasche zum Frühstück mit?
    »Entschuldigung, dass ich so spät bin«, sagt sie. »Ich hab mir die Haare
geföhnt. Sie sind noch ein bisschen feucht. Es dauert immer so lang, bis sie trocken
sind.«
    [63]  Er weiß nicht, ob er sie küssen soll oder nicht. Er steht auf, beschließt
dann aber, es doch nicht zu tun, und nimmt ohne weitere Begrüßung – die Hand geben
wäre auch komisch – wieder auf seinem Stuhl Platz.
    Sie setzt sich ihm gegenüber.
    »Siehst du’s?«, fragt sie.
    »Was?«
    »Dass mein Haar noch feucht ist. Es trocknet so langsam. Es ist zu dick.«
    »Haben Sie auch Zimmer 407?«, will die Kellnerin wissen.
    »412«, antwortet Lea.
    »Kaffee?«
    »Tee, bitte.«
    Die Kellnerin geht davon.
    »Für mich bitte Kaffee«, ruft Roland ihr hinterher.
    Lea trägt eine Jeans und eine Wollweste, die selbstgestrickt aussieht.
Sie wirkt unscheinbar, wie jemand, der nirgends bemerkt werden will.
    Einen Moment sitzen sie sich schweigend gegenüber.
    Er weiß nicht, was er sagen soll. Menschen phantasieren übereinander,
nicht nur sexuell, das eigentlich am wenigsten. Er enttäuscht die Phantasien der
anderen lieber nicht. Er möchte derjenige sein, den man in ihm sieht. Warum sich
abmühen, man selber zu werden, wenn man auch der werden kann, den der andere sich
wünscht? Innerhalb vertretbarer Grenzen natürlich.
    »Willst du nichts essen?«, fragt er schließlich.
    Sie schüttelt den Kopf. »Vielleicht etwas Müsli. Ich esse morgens nie
viel.«
    [64]  Sie bekommt eine Tasse heißes Wasser. Die Kellnerin hält ihr eine
Box mit diversen Teesorten hin, und zu Roland sagt sie: »Ihr Kaffee kommt gleich. Wir kochen gerade frischen.«
    Lea entscheidet sich für Rooibostee.
    Sie sieht abgespannt aus.
    Als die Kellnerin weg ist, sagt Roland: »Es tut mir leid.«
    »Was?«
    »Das von gestern Abend. Heute Nacht.«
    »Was ist heut Nacht passiert?«, fragt Lea und lacht leichthin. Sie taucht
den Teebeutel in ihre Tasse und geht zum Buffet. Er schaut
ihr hinterher, wie sie an den Speisen entlanggeht, ihrer schmächtigen Gestalt, wie
sie zögernd vor den Cornflakes stehen bleibt und sich
ein Schälchen nimmt. Sie sieht aus, als hätte sie sich verirrt.
    Lea kommt mit Joghurt zurück. Naturjoghurt.
    »Ist das alles?«, fragt er.
    »Ja. Ich hab keinen so großen Hunger.« Mit einer gewissen Selbstüberwindung
löffelt sie ihren Joghurt.
    »Vor dem Fliegen«, sagt Roland, »bin ich immer nervös. Tut mir leid.«
    »Hast du Flugangst?« Sie hält inne, den Löffel
reglos zwischen Schälchen und Mund. Joghurt tropft herunter.
    »Das nicht. Ich bin einfach verspannt. Ich habe vor dem Fliegen auch
nie Sex.«
    Sie löffelt weiter. Er kann nicht sehen, ob
sie lächelt. Was lustig ist, hängt von den Umständen ab. Wenn er unterrichtet, ist
er ab und zu witzig, ohne es darauf anzulegen. Wenn er entspannt ist, die Studenten
schon besser kennt, rutscht ihm manchmal eine lustige oder ironische Bemerkung [65]  heraus,
die für Lacher sorgt. Das Lachen kommt ihm jedes Mal vor wie eine Erlösung. Für
alle Beteiligten.
    In den Evaluationen werden seine Lehrveranstaltungen manchmal strohtrocken
genannt. Doch diesen Stimmen stehen immer auch ein paar gegenüber, die die Seminare
bei ihm als »inspirierend« bezeichnen oder behaupten, dass seine Ideen sie bestimmt
noch lange beschäftigen werden. Einer hatte sogar einmal
geschrieben: »Ich habe etwas gelernt fürs Leben.«
    »Isst du nichts?«, fragt

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