Mit Haut und Haaren
entlarven. Bei der Erforschung
des Gefühls muss der Wissenschaftler ganz unsentimental
sein.
Lea rührt weiter. Ohne sie wäre er gar nicht frühstücken gegangen, dann
hätte er seinen Koffer gepackt, noch ein paar letzte
E-Mails beantwortet. Doch er hat sie kennengelernt, ist neugierig geworden, instinktiv
spürt er, dass sie etwas von ihm erwartet. Die Erwartungen anderer Leute wecken
sein Interesse, obwohl er weiß, dass diese Neugier vielleicht nichts anderes als
verkappte Eitelkeit ist. Sie haben denselben Flug nach New York, sie werden ein
Taxi zum Flughafen teilen, und jetzt sitzen sie hier zusammen beim Frühstück. So
geht das eben.
»Warum hat sie es dir eigentlich erzählt? Es ist so eine undankbare Rolle.
Warum erzählen Leuten einander so was?«
Sie redet wie zu sich selbst, sieht ihn nicht an, sie spricht mit ihrem
Löffel.
»Meine Freundin?«
»Ja. Wie heißt sie? Oder willst du das lieber nicht sagen?«
»Violet. So heißt sie. Ich weiß nicht, warum
sie es mir erzählt hat.«
Gute Frage. Warum hat Violet es ihm erzählt? Wenn sie nichts gesagt hätte,
hätte er es nie erfahren. Er ist kein argwöhnischer Typ. Auch für Argwohn müsste
er sich Zeit nehmen. Er müsste ihn in seinem Terminkalender einplanen: 24. November,
Argwohn.
[69] »Ich hätte es dir nicht erzählt«, sagt Lea und nimmt endlich wieder
einen Löffel von ihrem Joghurt. Sie muss sich sichtlich
überwinden. »Wem ist damit gedient?«
»Ich auch nicht«, antwortet Roland. »Ich hätte es auch nicht erzählt.«
Er hat beschlossen, die Hälfte des Croissants liegen
zu lassen. Er kriegt es nicht mehr hinunter.
»Manche Leute können nicht lügen«, meint Lea. »Es nagt an ihnen. Kannst
du lügen?«
»Ich glaub schon«, sagt Roland und fragt sich, ob Violet lügen kann.
Er geht davon aus. Alle intelligenten Menschen können das. Manchmal selbst dumme.
Er hat schon Studenten gehabt, geistige Tiefflieger,
weiß Gott, aber lügen konnten sie wie die Weltmeister. Dann fällt ihm ein, dass
er heute viel trinken muss. Man trocknet im Flugzeug schnell aus. »Kannst du lügen?«
Was für eine Frage. Jede Antwort ist die falsche.
»Man könnte auch sagen, dass man den Leuten die Chance geben muss, zu
entdecken, wer man wirklich ist«, sagt Lea. »Damit sie selbst entscheiden können,
ob sie bei einem bleiben wollen oder nicht.«
Er schaut sie an. Eine Studentin hat einmal zu ihm gesagt: »Ich würde
Sie gern besser kennenlernen.« Es war kein Flirt, wenn überhaupt irgendwas, war
es Einsamkeit, das jedenfalls war damals sein Eindruck. Tiefe, herzzerreißende Einsamkeit,
die ihn viel Zeit kosten würde, und egal, was er täte, weniger einsam würde sie
sich dadurch trotzdem nicht fühlen. Er hatte gelächelt. Mehr nicht. Freundlich gelächelt.
Seine Eitelkeit hatte ihr Zuckerl bekommen, und damit genug; er hatte Bücher und
Papiere in seiner Plastiktüte verstaut – Leder- oder Leinentaschen kann [70] er nicht
leiden – und gemurmelt: »Also dann bis nächste Woche.«
»Die Chance darf man ihnen überhaupt nicht geben«, sagt Roland gedankenverloren.
»Was geht es sie an, wer man ist? Und was ist wirklich und was weniger wirklich?
Menschen heucheln, spielen Rollen, glauben an ihr eigenes Getue, ich sehe es jeden
Tag an der Uni. Ist das eine nun echt und das andere unecht, wie ein gesundes im
Vergleich zu einem künstlichen Bein? Menschliches Verhalten so zu betrachten scheint
mir nicht zielführend.«
Bei manchen Kollegen geistert der Begriff
»Zwischenmenschlichkeit« herum. Nur schon das Wort. Er weiß, was sich dahinter verbirgt:
Förderung des allgemeinen Stumpfsinns.
Er steht auf. »Ich hole mir ein Glas Wasser. Soll ich dir auch welches
mitbringen?«
Sie nickt.
Als er es bringt, stürzt sie es nur so herunter. Zum Trinken muss sie
sich jedenfalls nicht überwinden.
»Ich fand’s schön, dass du auf dieser Konferenz warst«, sagt sie. »Ich
kenne dich kaum, und doch hab ich das Gefühl, dass wir … dass wir Freunde sind.
Oder werden könnten.«
»Ja«, sagt Roland. Es klingt spröde. Er kann es nicht ändern.
»Werden könnten oder schon sind?«
»Werden könnten. Sind. Das eine ergibt sich doch aus dem andern.«
»Aber wenn wir beschwipst sind, geht es besser. Reden, meine ich. Wir
können es weniger gut, wenn wir nüchtern sind.«
[71] »Wann waren wir denn beschwipst?«
»Am ersten Abend.«
»Ich war nicht beschwipst«, sagt Roland. »Und ich finde, dass es jetzt hervorragend geht. Reden und
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