Mit Haut und Haaren
frühstücken.
Auch wenn wir nicht beschwipst sind. Das kriegen wir ziemlich gut hin. Wenn ich
dieses Gespräch benoten müsste, würde ich ihm sieben von zehn geben, vielleicht
sogar acht. Und ich will dich nicht hetzen, aber langsam müssten wir vielleicht
doch auf unsere Zimmer. Koffer packen. Ich bin immer
gern etwas früher am Flughafen.«
»Ich wollte dir etwas zeigen«, sagt sie.
Aus der Tasche holt sie ein Buch.
»Hab ich für meine Tochter gekauft«, sagt
sie.
Es ist ein Bilderbuch und heißt Ente, Tod und Tulpe. Roland blättert darin.
»Ich fand es so schön«, sagt sie. »Ich hab es in einem Laden gesehen
und sofort gekauft. Es handelt von einer Ente und dem
Tod.«
»Schöne Zeichnungen. – Wie alt ist deine Tochter?«, fragt Roland, während
er weiter in dem Buch blättert. Die Ente erinnert ihn an Violet. Er kann nicht sagen,
warum. Wenn man sie schon mit einem Tier vergleichen wollte, dann noch am ehesten
mit einem Lamm. Sie erinnert ihn an so ein Tier auf der Weide, das dringend geschoren
werden muss.
»Fast drei«, antwortet Lea.
»Ist das nicht etwas zu jung, um über den
Tod nachzudenken?«
»Es handelt von einer Ente, die mit dem Tod Freundschaft schließt.«
»Ist drei nicht etwas zu jung, um über Freundschaft mit [72] dem Tod nachzudenken? Kann man sich mit dem Tod überhaupt
anfreunden?«
Sie zuckt mit den Schultern. »Rührt dich das nicht?«, fragt sie. Sie
klingt enttäuscht. Als mache er etwas ihr Wichtiges herunter. Freundschaft mit dem Tod. Als hätte er sie eigentlich verstehen müssen
und sagen: »Klar, natürlich. Freundschaft mit dem Tod,
schön für deine Tochter.«
Es ist mehr als nur Enttäuschung. Er sieht Tränen in ihren Augen. Weint
sie, weil ihm das Kinderbuch nicht gefällt, oder wegen etwas anderem? Was es auch
ist, er möchte nicht hineingezogen werden. Es fängt an mit Geheul und endet damit,
dass man zusammen ein Haus kauft. Halt dir den Schmerz
anderer Leute vom Leib, geh nicht in die Falle. Die Mausefalle des menschlichen
Kontakts. Rattengift für jeden Ehrgeiz.
»Doch«, sagt Roland so neutral wie möglich, »es rührt mich, aber ich
denke an deine Tochter.«
Er schlägt das Buch zu, gibt es ihr zurück. Jetzt müssen sie wirklich
nach oben.
Lea beginnt nun selbst, in dem Buch zu blättern.
»Spricht deine Tochter Deutsch?«
»Ich kann es ihr übersetzen«, sagt Lea.
Roland schweigt. Der Kaffee schmeckt ihm nicht
mehr. Er steht auf.
»Hast du eigentlich Kinder?«, fragt Lea, während sie immer noch mit dem
Buch dasitzt.
Roland nickt.
»Auf jedem Kontinent eins?«
Er schüttelt den Kopf. Endlich macht auch sie Anstalten zu gehen.
[73] »Nein, nur auf diesem«, sagt er.
»Darf ich es noch mal machen?«, fragt sie.
»Was?«
»Dir in die Nase kneifen.«
»Natürlich, nur zu.«
Sie kneift ihm in die Nase. Doch nicht wie
beim vorigen Mal. Jetzt kneift sie vorsichtig, kontrolliert.
Ironisch.
Als sich die Fahrstuhltür öffnet, stehen sie
Sven Durano gegenüber.
»Ich dachte, du wärst schon weg«, sagt Oberstein. »Wir fahren gleich
zum Flughafen. Musst du auch dahin? Sollen wir dich mitnehmen?«
»Ich fahr mit dem Zug«, sagt Durano. »Dann kann ich noch ein bisschen
arbeiten, nach Zürich ist es nicht weit. Es war eine schöne Konferenz. Wir bleiben
in Kontakt.«
Er gibt erst Oberstein und dann Lea die Hand, dann geht er davon. In
der Linken einen kleinen Koffer, über der rechten Schulter
die Notebooktasche.
Im Fahrstuhl sagt Oberstein: »Er nennt sich ›Ökonom und Historiker‹,
ist aber keines von beidem. Seine wirtschaftlichen Aufsätze
sind Schrott und, soweit ich’s beurteilen kann, seine historischen auch. Er sagt,
er sei Schweizer. Das mag zutreffen.«
»Er ist groß«, sagt Lea. »Ein stattlicher
Mann.«
»Ja«, sagt Oberstein, »er ist groß. Vielleicht ist das ein Verdienst.«
[74] 6
Um den Lunch kümmert sich immer die Praktikantin. Die Firma
ist klein und hat ihre Räume im vierten Stock eines Bürokomplexes. Der Blick aus
dem Fenster geht unmittelbar über die Bäume.
Alle lunchen gemeinsam. Das ist gut fürs Betriebsklima. Niemand hat ein
eigenes Büro. Auch gut fürs Betriebsklima.
Als Violet hier anfing, war sie die Praktikantin.
Damals war sie für den Lunch verantwortlich. Sie ist sich nicht schnell für irgendetwas
zu gut. Es machte ihr sogar Spaß, den Lunchtisch hübsch herzurichten.
Jetzt hat sie eine feste Stelle, und es gibt eine neue Praktikantin.
Ein Mädchen mit strähnigen Haaren und
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