Mit Haut und Haaren
er seinen
Geliebten in diesem Loft treffen;
keine richtige Wohnung, mehr ein riesiger, leerer Raum mit Resten des Hausrats eines
verstorbenen Künstlers: seinem Bett, seinen Gemälden und Büchern –, braucht er ihn
auch nicht mehr ins Badezimmer zu zerren.
Ab und zu kommt er auch mit seinen Kindern hierher, um mit ihnen zu spielen.
Seine Kinder. Ava und Gabe. Sie lieben diese Wohnung. Schön groß. Ideal
zum Herumtollen, Verstecken und Fangen-Spielen.
Dort liegt der Bote, auf dem Bett des verstorbenen Künstlers.
Er hat gesagt, dass er jetzt endlich seine Green Card wolle, alles nur
für seine Frau und sein Kind getan habe, jetzt wolle er endlich seine Green Card
und dass er sonst zur Polizei gehe, doch Jason wagt ihn noch nicht zu legalisieren.
Legalisieren bedeutet verlieren.
Sobald sie legal sind, entwischen sie einem.
Darum muss er dem Boten die Wurst noch eine Weile vor die Nase halten,
Enrique darf noch nicht zubeißen.
Während Jasons Penis in der heiligen Öffnung
des Boten [540] verschwindet und er dabei den eigenen Bauch sieht, seinen abscheulichen
Bauch, spürt er, wie ihm Tränen in die Augen treten.
Keine andere Angst scheint er mehr zu kennen als die, den Boten zu verlieren.
Angst vor Gesichtsverlust, vor dem Tod eines Kindes, Angst vor dem Abgrund, davor,
seinen Ruf zu verlieren – all diese Ängste sind wie weggeblasen, nichts gibt es
mehr als die an Sicherheit grenzende Furcht, er könnte seinen Liebsten verlieren.
Einmal rammelte er so wild drauflos, um diese Angst zu vertreiben, dass
das Bett durchkrachte, doch er hat es wieder zusammenbekommen.
»Mein Kleiner, mein Liebster«, flüstert er.
Doch der Krach der U-Bahn übertönt seine Stimme.
Sieht der Bote denn nicht, dass er, Jason, nicht ohne ihn auskommt, ist
er blind für alles, was Jason für ihn tut? Und während er im Takt des durchdringenden
Krachs in den Hintern des Boten stößt, mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft, überfällt ihn der Gedanke, der langsam zur Überzeugung
heranwächst: Sein Geliebter muss sterben.
32
Der Bauernhof ist nicht besonders groß. Viele Kühe, vor allem
Kühe, ein paar Pferde, Hühner, Hunde, ein einzelnes Schaf. Vor dem Pferdestall begegnen
sie einem Mädchen mit Reitstiefeln und einer Peitsche. Sie stellt sich als Lieke
vor.
[541] Oberstein gibt ihr die Hand.
»Ich bin in einer Vorlesung bei Ihnen«, sagt sie.
»Ach ja«, antwortet er. »Ich hab dich bloß nicht erkannt wegen der Kleidung.«
»Er kommt sich die Pferde ansehen«, sagt Gwendolyne.
»Das ist schön von Ihnen«, sagt Lieke. »Ich wusste gar nicht, dass Sie
Pferdeliebhaber sind.«
»Ja«, antwortet Oberstein, »das wusste ich
auch nicht.«
Er schämt sich, dieser Lieke hier zu begegnen. Was bleibt alles unerledigt,
während er hier ist? Seine Arbeit. Das schon mal als Erstes. Die Pflichten seinem Sohn gegenüber, dessentwegen er eigentlich
in die Niederlande gekommen ist. Wegen des Bauernhofs ist er nicht hier.
Roland wartet, während Gwendolyne und Lieke sich miteinander unterhalten.
Er kann dem Gespräch nicht folgen.
Er schaut sich um. Deprimierend, so ein Bauernhof. Tieftraurig, vor allem
bei diesem Wetter.
Er fragt sich, was in ihn gefahren war, als er die Einladung annahm.
Ihm ist kalt.
Als das Gespräch der zwei Mädchen zu Ende ist, führt Gwendolyne ihn in
den Stall. Obersteins Hose ist schon jetzt voller Dreck.
»Sie werden stinken«, sagt Gwendolyne. »Wenn Sie zu Hause sind, müssen
Sie sich gleich unter die Dusche stellen. Das tue ich auch immer, wenn ich vom Pferd
komme.«
»Danke für den Tipp«, sagt er.
Im Stall gibt es sechs Boxen. Vier davon sind besetzt. Es herrscht ein
gelbliches Licht.
»Das ist mein Pferd«, sagt Gwendolyne, »sie
heißt Blondie.«
[542] Für Oberstein sehen alle Pferde gleich aus, doch er mustert Gwendolynes
Pferd mit gespieltem Interesse.
»Ist sie nicht schön?«, fragt sie.
»Blondie«, sagt er. »Das ist doch eine Sängerin. Man nennt sein Pferd
doch nicht ›Blondie‹?«
»Der Name musste mit ›B‹ anfangen, wegen ihres Geburtsjahres, alle Pferde
ihres Jahrgangs haben einen Namen mit ›B‹. Und ich fand Blondie schön. Außerdem,
so viele Blondie-Fans lassen sich hier nicht blicken. Blondie ist doch mehr Opa-
und Omamusik.«
Er streichelt dem Pferd geistesabwesend über die Nase.
»Sie ist zwar schön, aber nicht intelligent; ehrlich gesagt, ist sie
ein bisschen beschränkt«, sagt Gwendolyne.
Über die Intelligenz von Pferden hat Oberstein
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