Mit Haut und Haaren
Bescheid
geben, jedes Mal, wenn du fremdgehst. Weihnachten ist längst vorbei. Ich hab nichts
gehört.«
»Ich gehe doch fremd.«
»Ja, aber immer mit demselben. Das ist kein Kunststück.«
»Findest du das denn nicht schlimm«, fragt
sie, »was ich mache?«
»Es ist ein Spiel«, sagt er.
Sie setzt sich ans Fußende des Betts. Ihre Rechte sucht so lange unter
der Decke, bis sie auf seinen Fuß stößt. »Aber wo hört das Spiel auf?«, will sie
wissen, während sie seinen Fuß streichelt. »Was ist Spiel, und was nicht?«
»Fast alles ist Spiel. Vielleicht war das früher mal anders. Ich glaube,
irgendwann im vorigen Jahrhundert hat das gedreht. Jetzt gibt es nur noch das Spiel,
es ist nicht mal klar, ob es ein ernstes oder ein heiliges ist. Das Heilige phantasieren
wir dazu. Und der Ernst ist auch nur ein anderes Wort für Devotion und Fanatismus.«
»Und was für ein Spiel spielst du mit mir?«
Sie hält seinen Fuß immer noch fest.
Er muss kurz nachdenken. »Das Spiel mit der Peitsche«, sagt er. »Aber
das spiele nicht nur ich mit dir, das spielst du umgekehrt auch mit mir.«
[530] Sie lässt seinen Fuß los, geht ins Bad und kommt mit einem neuen Glas
Wasser zurück. Vor seinem Schreibtisch bleibt sie stehen. »Was ist das hier?«, fragt
sie. »Liest du das?«
Sie hält das Buch von Zweig in der Hand.
»Geschenk von einer Studentin«, sagt er.
»Für eine bessere Note? Will sie dich bestechen?«
Nicht reagieren. Das ist das Beste.
Sie schlägt das Buch auf: »Als der bekannte Romanschriftsteller R. frühmorgens von dreitägigem erfrischendem Ausflug ins Gebirge wieder nach Wien zurückkehrte«, liest sie,
»und am Bahnhof eine Zeitung kaufte, wurde er, kaum daß er das Datum überflog, erinnernd gewahr, daß heute sein Geburtstag sei. Der
einundvierzigste, besann er sich rasch, und diese Feststellung tat ihm nicht wohl
und nicht weh.«
Violets deutsche Aussprache ist furchtbar, doch er fällt ihr nicht ins
Wort.
»Siehst du«, sagt er. »Das ist Literatur: ein Mann, der seinen Geburtstag
vergisst – ich bitte dich, man braucht ihn ja nicht grad zu feiern, aber vergessen?
Ein Bild der Wirklichkeit, auf Falschurteilen beruhend und romantischen Phrasen,
die als moralisch hochstehend gelten, während sie letztlich ins Verderben führen.
Ich werd es aus Höflichkeit zu Ende lesen. Es ist ziemlich dünn.«
»Vielleicht sollten wir lieber wieder mit Hilfe der Tiere reden«, sagt
sie, »das wird ein besseres Gespräch.«
Sie nimmt eines der kleineren Tiere, die sie früher am Abend aufs Bett
gelegt hat. »Heute bin ich das Eichhörnchen«, sagt sie.
[531] Sie schaut ihn erwartungsvoll an. »Spürst du nicht, was mit uns los
ist?«, fragt sie, das Eichhörnchen in Händen.
»Eichhörnchen«, flüstert er, und während er
das Wort flüstert, denkt er an seinen Sohn und an Violet
und an den Satellitentelefonhändler und dann an sein eigenes Leben, über das er
offenbar nicht mehr frei verfügt. Etwas hat Besitz von
ihm ergriffen, wie der Staat vom Leben eines Gefängnisinsassen.
Sie hat sich aufs Bett gesetzt. Er streichelt ihren Hals. »Eichhörnchen«,
sagt er noch einmal.
27
Gwenny kommt in Obersteins Büro, doch es sitzt gerade jemand
anders bei ihm. Er sagt zu ihr: »Warte draußen einen Moment, gleich hab ich Zeit
für dich.«
Sie geht auf den Flur mit ihrer Ledertasche, die sie auch in der Schule
schon hatte.
Sie schickt Lieke eine SMS : »Es fehlt nicht
mehr viel, und ich habe die Wette gewonnen.«
Die Antwort kommt prompt: »Warten wir’s ab.«
[532] 28
Oberstein gegenüber sitzt ein dicklicher junger Mann mit blondem
Haar, der ihn irgendwie an Prinz Willem-Alexander erinnert, allerdings in verjüngter
Version.
Der junge Mann behauptet, vom Universitätsblatt Mare zu kommen, ihm sei, so sagt er, zu Ohren gekommen, wonach Oberstein die Universität
Leiden als die korrupteste Hochschule des Landes bezeichnet habe.
Oberstein fragt sich, woher der Junge seine Weisheit bezieht. Er kann
sich kaum vorstellen, dass Verkerk solche Informationen an die Öffentlichkeit gibt, und er selbst hat sich in der Sache Saitoti
niemandem gegenüber geäußert.
Er versucht, sich auf den jungen Mann vor ihm zu konzentrieren, doch
dauernd steht ihm das Bild des Kronprinzen vor Augen, dem er vor Jahren mal auf
einem Ökonomieforum begegnet ist. Oberstein fand den Kronprinzen sympathisch. Ein
freundlicher KLM -Pilot, so war er ihm vorgekommen,
einer, mit dem man auch mal ein Bier trinken und sich
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