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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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sich noch nie Gedanken
gemacht und hat das auch heute nicht vor.
    »Vielleicht könnten Sie sich jetzt bei ihr
entschuldigen?«
    »Wie bitte?«
    »Vielleicht könnten Sie sagen: ›Entschuldigung, Blondie, es tut mir leid‹?«
    »Das mache ich nicht, ich entschuldige mich
nicht bei einem Pferd.«
    »Sie haben sie beleidigt. Sie noch mehr als mich.«
    »Du hast gesagt, das Pferd sei beschränkt.«
    »Haben beschränkte Pferde kein Anrecht auf ein bisschen Respekt?«
    Sie ist nicht bei Trost, denkt er. Doch er wird das Spiel mitspielen,
dann hat er Ruhe.
    »Entschuldigung, Blondie«, sagt er und tätschelt die Stute, »Entschuldigung,
dass ich dachte, Wirtschaftswissenschaft könnte wichtiger sein als ein Pferd.«
    [543]  »Soll ich ein Foto von Ihnen machen?«, fragt Gwendolyne plötzlich.
»Bleiben Sie so stehen. Ich stell es auf Facebook. Sieht toll aus!«
    Er will »Nein« sagen, doch er sagt nichts. Es ist nichts Falsches an
dem, was er tut. Wenn die Universität meint, dass Samuel Saitoti für seine Klausur
ein »Bestanden« verdient hat, kann er mit bestem Gewissen die Pferde seiner Studenten
besuchen. Und ihre Hunde. Und ihre Katzen und Salamander.
    Nachdem sie das Foto gemacht hat, geht er weiter durch den Stall, die
Plastiktüte mit seinen Büchern in der Hand. Er betritt eine leere Box. Es liegt
Stroh auf dem Boden.
    »Was ist das hier?«, fragt er.
    »Eine leere Box«, antwortet sie. »Was sonst? Hier stand ein Pferd, aber
das haben wir verkauft.«
    Er zeigt auf das Stroh. »Essen das Pferde?«, fragt er.
    »Ja«, sagt sie. »Unter anderem.«
    Kalt ist ihm. Eiskalt. Eine heiße Dusche würde ihm guttun.
    »Und Würfelzucker?«, fragt er. »Essen sie auch Würfelzucker, oder ist
das ein Mythos?«
    »Mein Pferd mag Pfefferminz. – Aber hätten
Sie sich das hier je träumen lassen, Meneer Oberstein, als Sie mich das erste Mal
im Hörsaal gesehen haben?«
    »Ich hab dich nie im Hörsaal gesehen. Ich sehe keine Studenten, ich sehe
nur Ideen.«
    Er lässt seine Tüte mit Büchern zu Boden gleiten, packt Gwendolyne bei
den Schultern und küsst sie, drückt sie aufs Stroh. Vielleicht drückt auch sie ihn,
vielleicht fallen sie beide.
    [544]  Das ist es. Sie fallen.
    »Die 0800-9444, wie oft hast du die gewählt?«,
flüstert er.
    »0800-4999. Ziemlich oft. Wenn das Gespräch
einem nicht gefällt, kann man es wegdrücken.«
    »Wegdrücken«, flüstert er, »wegdrücken, wenn
es einem nicht gefällt.«
    Er öffnet seine Hose, mühsam, mit steifen
Fingern vor Feuchtigkeit und Kälte. Er muss sich in Erinnerung rufen, wer er ist,
während er ihr die Hose aufknöpft und sie küsst, sie
betastet und keucht: Er ist Wissenschaftler, er ist Ökonom.
Wirtschaftswissenschaftler
liegen nicht im Stroh. Oberstein ist kein Pferd. Er gehört zu den vierzig bedeutendsten
Smith-Experten der Welt.
    »Rufst du immer noch oft an«, flüstert er, während er seine Hände unter ihren BH schiebt, »bei dieser Nummer?«
    Ein Pferd tritt gegen die Trennwand, immer lauter und wilder.
    Er dringt in Gwendolyne ein.
    Der Stall scheint zu beben. »Was ist das?«, fragt er.
    »Das ist Blondie«, sagt Gwendolyne. »Sie will, dass man sich mit ihr
beschäftigt. Sie ist eifersüchtig.«
    »Und was sagen die Männer zu dir?«, flüstert
er, während er sie im Stroh vögelt. »Was sagen sie?«
    »›Was hast du an?‹«, wispert sie ihm ins Ohr. »›Was hast du an?‹, fragen
sie immer.«
    Das Pferd tritt weiter gegen die Trennwand. Es macht einen Höllenlärm.
    »Was hast du an?«, ruft Roland, um das Pferd
zu übertönen. »Was hast du an?«
    [545]  »Meistens sag ich: ›Einen kurzen Rock‹«, flüstert
Gwendolyne, »auch wenn’s nicht stimmt: ›Einen kurzen Rock.‹«
    Als es vorbei ist, steht Roland auf.
    Er zieht sich die Hose hoch. Klopft sich das
Stroh ab.
    Mit dem Rücken zu ihm bringt Gwendolyne ihre Kleidung in Ordnung.
    Das Pferd hat aufgehört, gegen die Trennwand zu treten.
    »Ich bin einer der vierzig bedeutendsten Smith-Experten der Welt. Adam
Smith«, sagt er, während er weiter das Stroh von sich abpflückt.
»Eigentlich weiß ich nicht, was ich in diesem Pferdestall mache.«
    »Ist ja interessant«, antwortet sie.
    Er weiß nicht, wie es jetzt weitergehen soll. Er nimmt die Tüte mit den
Büchern für seinen Vortrag.
    »Entschuldige die Frage, aber nimmst du eigentlich
die Pille?«
    »Ja«, sagt sie. »Tue ich. Seit ich fünfzehn bin.«
    Er müsste erleichtert sein, doch das ist er nicht.
    »Wir dürfen keine unnötigen

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