Mit Haut und Haaren
ihrem kleinen, wohlgeordneten
Zimmer.
Die Tür hat sie abgeschlossen.
Das tut Gwenny immer, sobald sie das Zimmer betritt, wenn sie wieder
geht, lässt sie es offen.
Im Liegen lackiert sie sich die Nägel. Der Lack ist fast durchsichtig,
das unauffälligste Rosa, das es gab.
Als sie damit fertig ist, setzt sie sich ans Notebook und googelt »Roland
Oberstein«. Er ist tatsächlich einer der vierzig bedeutendsten Smith-Experten der
Welt.
36
Es dauert lange, bis Lea, die Kinder und ihr Großvater die
Einreisekontrolle passiert haben. Roland küsst Lea auf beide Wangen, begrüßt die
Kinder und schüttelt Leas Großvater die Hand – soweit man das so nennen kann: Willenlos
überlässt der alte Mann ihm seine Rechte, und ebenso willenlos lässt er sie wieder
zurücksinken.
[550] Roland fragt, ob sie einen guten Flug gehabt haben.
»Soweit das geht«, antwortet sie, »mit zwei Kindern und einem demenzkranken
Großvater. Und all dem anderen.«
»Ich hab ein Hotel für euch in der Innenstadt gebucht, nicht teuer und
doch recht angenehm«, sagt Oberstein. Er hat ihre Bemerkung gehört, will aber nicht
darauf eingehen. »Gut sieht er aus, dein Großvater.«
Eigentlich hatte er vorgehabt, etwas für Leas Kinder zu kaufen, doch
die Zeit, die er dazu gebraucht hätte, hat er in einem Stall westlich von Delft verbracht.
Sie gehen zu den Taxen. Roland stützt Leas Großvater.
»Ist es noch weit?«, fragt Lea. »Er ist zwar dement, nicht gelähmt, aber
weit gehen ist trotzdem nicht gut für ihn.«
»Wir sind gleich da.«
Roland mustert den Mann, der nach Europa zurückgekehrt ist, um hier zu
sterben. Für jemanden, der sterben muss, sieht er gut aus.
»Und wie nett von dir«, sagt Lea leise – endlich stehen sie vor den Taxen –, »nett, dass du merkst, dass mein Großvater gut aussieht, und von mir sagst du
kein Wort.«
Sie müssen einen Moment warten, bis ein Taxi frei wird, in das sie alle
hineinpassen.
»Du siehst auch gut aus«, sagt Roland ebenso leise.
Im Taxi versucht er, ein Gespräch mit Leas Sohn anzufangen, doch der
Junge ist bockig und weigert sich, Roland zu antworten.
»Ich dachte, vielleicht wäre es eine gute Idee, dich meiner Mutter vorzustellen.
Sie versteht mehr vom Tod als ich. Aber heute Vormittag muss ich erst noch nach
Leiden. Ich schlage also vor, ich bring euch jetzt ins Hotel und hole [551] euch dann
gegen vier ab, um zu meiner Mutter zu fahren.«
»Weiß deine Freundin überhaupt, dass ich
hier bin?«
»Ich hab ihr gesagt, dass eine amerikanische Bekannte Hilfe benötigt,
im Zusammenhang mit einer Euthanasie. Und Sylvie und Jonathan wissen natürlich auch,
dass ihr kommt. Ich werd versuchen, so viel Zeit wie möglich mit euch zu verbringen,
aber ich hab eine Konferenz in Lyon, und die muss ich vorbereiten. Über die Wirtschaftspolitik von Vichy.« Kurz berührt er ihr Haar. »Was macht
eigentlich Höß?«, fragt er.
»Geht so«, antwortet sie. »Es gibt noch was andres, was ich dir erzählen
muss.«
Rolands Handy vibriert in der Hosentasche. Er holt es hervor.
»Hallo, Meneer Oberstein«, liest er, »jetzt haben Sie auch meine Nummer.
MfG Gwenny.«
37
Meist sitzt Gwenny im Hörsaal ganz vorn. Wer vorn sitzt, hat
wenigstens das Gefühl, dass der Dozent zu einem spricht. Weiter hinten fängt sie
meist an zu träumen, manchmal schläft sie sogar ein.
Außerdem wirkt Vornsitzen immer so, als sei man gut vorbereitet.
Seit einer halben Stunde redet Slachter jetzt ununterbrochen.
[552] Per SMS hat sie sich bei Oberstein über
Slachters Vorlesungen beklagt: Langweilig seien sie. Nicht, dass Obersteins Veranstaltungen
so viel interessanter wären, doch das braucht sie ihm nicht auf die Nase zu binden.
Die Leute brauchen nicht alles zu wissen.
Sie ist eifrig am Simsen.
Oberstein simst zurück: »Slachter ist kein Wissenschaftler. Höchstens die Steuererklärung für einen besseren Handwerksbetrieb
kriegt er hin. RO .«
Sie gibt die SMS weiter an Lieke, die neben
ihr sitzt. Ihre Freundin liest die Nachricht, lächelt und gibt das Handy sofort
an ihre andere Nachbarin weiter.
»Nicht allen zeigen«, flüstert Gwendolyne
Lieke ins Ohr. Doch zu spät: Ihr Handy ist schon drei Reihen weiter.
Dann schaut sie wieder nach vorn zu Slachter, der mit einer gewissen
Begeisterung seine Vorlesung über Steuerrecht hält. Sie kann sich nicht darauf konzentrieren.
Sie sieht Oberstein vor sich, wie er ihr Pferd reitet. In ihrem Tagtraum reitet
er gut.
38
»Wer ist das?«, fragt Mevrouw
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