Mit Haut und Haaren
deftige
Witze erzählen konnte.
»Wissen Sie, ich will nur so viel sagen«, antwortet Oberstein dem dicklichen
Jungen: »Die Frage, ob Eltern oder Angehörige eines Studenten der Universität Spenden
zukommen lassen, darf keinerlei Einfluss auf die Benotung
des jeweiligen Prüflings besitzen, und wenn das doch geschieht …«
»… ist das Korruption«, ergänzt der Blonde. Sein Notizbuch liegt vor
ihm auf Obersteins Schreibtisch.
Oberstein schweigt. Vielleicht hätte er sich nicht auf [533] dieses Gespräch
einlassen sollen, doch für einen Rückzieher ist es zu spät.
»Ja, irgend so was«, sagt er. »Irgend so
was.«
»Meneer Oberstein«, sagt der junge Mann plötzlich und schaut ihn aufmerksam
an, »ich muss Ihnen diese Frage stellen, denn auch über Sie machen gewisse Gerüchte
die Runde: Sind Sie ein Rassist?«
Hätte der junge Mann ihn gefragt: »Sind Sie pädophil?«, er hätte nicht
verblüffter sein können. »Ich bin Wissenschaftler«, sagt Oberstein kurz angebunden, »und ich denke, dieses
Gespräch ist beendet.«
Er steht auf, nimmt seinen Mantel und seine Plastiktüte, während Kollege
Slachter ihn nicht aus den Augen lässt.
Der Junge, der dem Kronprinzen so ähnlich sieht, bleibt ungerührt sitzen.
Auf dem Flur sieht Oberstein Gwendolyne stehen.
Natürlich: Sie sollte ja vor der Tür auf ihn warten!
»Haben Sie es gelesen?«, fragt sie. »Das Buch?«
»Das von Zweig? Ja. Es war ja nicht dick.«
Im Gehen zieht er sich den Mantel über.
»Und?«
Sie geht neben ihm her.
»Ich will versuchen, es freundlich zu sagen, Gwendolyne. Viele behaupten,
Psychotherapie sei eine Erfindung für gelangweilte, hysterische
Frauen. Nach der Lektüre dieses Machwerks – und ich sage das nicht nur aufgrund
dieses einen Buchs, im Lauf der Jahre habe ich Gelegenheit zu repräsentativen Stichproben
gehabt – glaube ich, dass Hysterie und Literatur in dieselbe Kategorie gehören.
Literatur ist ein Zeitvertreib für überhitzte Gemüter.«
[534] Sie stehen vor dem Gebäude, er blickt sich um, als wisse er nicht,
wohin es jetzt gehen soll. Er wirft einen Blick auf Gwendolyne,
seine Bemerkung scheint sie nicht besonders beeindruckt zu haben.
»Na ja, offenbar ist Zweig nicht so Ihr Ding.«
Mit einem Gummi bindet sie sich das Haar zu einem Pferdeschwanz. »Aber weil Sie
sie beleidigt haben, dachte ich mir: Vielleicht interessiert es Sie, sie einmal
kennenzulernen?«
Es weht ein eisiger Wind.
»Wen?«, fragt er.
»Meine Stute«, antwortet sie. »Wen sonst?«
»Warum sollte ich deine Stute kennenlernen wollen?«
Er sollte sie einfach stehen lassen, doch noch immer steht er da wie
angewurzelt.
»Weil Sie sie beleidigt haben. Auch Pferde haben was mit Wirtschaft zu tun.«
»Alles hat mit Wirtschaft zu tun.«
Er denkt an den jungen Mann, der ihn vor kaum fünf Minuten eindringlich
angesehen und gefragt hat: »Sind Sie ein Rassist?« Er denkt an Verkerk, an Kollege
Slachter. Er hasst diese Universität, er hasst dieses Land.
»Wo wohnt dein Pferd?«
»Sie wohnt nicht, sie stehtim Stall, nicht
weit von hier, auf einem Bauernhof.«
»Dann gehen wir eben in drei Teufels Namen da hin«, sagt Oberstein schließlich.
[535] 29
»Ich habe ein Taxi gerufen«, schreibt Lea eine SMS , »und Großvater ein Schlafmittel gegeben. Die Kinder
haben ihre Rucksäcke auf. Wir sind bereit für seine letzte Reise.«
Leas Großvater sagt etwas auf Polnisch, was sie nicht versteht.
Lea spricht die Sprache nur ein ganz kleines bisschen. Lesen kann sie
sie besser.
Während sie ihren Großvater ansieht, muss sie an die Entführung von Eichmann
denken. Eine Berufsdeformation. Wie ihr ganzes Leben.
30
Sie haben den Nahverkehrszug nach Rotterdam genommen. In Delft sind sie in einen Bus umgestiegen.
Oberstein sitzt Gwendolyne gegenüber. Er hat nicht darauf geachtet, wohin
der Bus fährt, und auch nicht gefragt, wo sie aussteigen müssen.
»Machst du das immer so?«, fragt er. »Zeigst du dein Pferd öfter Dozenten?«
»Nein«, sagt sie, »Sie sind der erste.«
Sie schaut aus dem Fenster.
Er umklammert die Plastiktüte mit seinen Büchern. Heute Nacht wird er
bis spät durcharbeiten müssen, um [536] den Zeitverlust wieder wettzumachen. Aber jetzt
ist er hier. Für irgendwas wird es schon gut sein. Ein beruhigender Gedanke.
Auch Oberstein schaut aus dem Fenster. Es wird langsam dunkel.
»Dein Stefan Zweig«, sagt er schließlich, weil das Schweigen ihn stört,
ihn förmlich beklemmt, »willst du hören, was ich
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