Mit Haut und Haaren
im Einzelnen von ihm denke?«
»Na klar.«
»Eine Frau geht insgesamt viermal mit einem Mann ins Bett. Sie kriegt
ein Kind von ihm. Aus mir ziemlich unerfindlichen Gründen
beschließt sie: Dieser Mann ist der Mann meines Lebens, an sich schon ein merkwürdiges
Konzept. Woher weißt du, ob ein Mann der Mann deines Lebens ist, bevor du alle anderen
ausprobiert hast? Nun ja, wie auch immer, jedenfalls erzählt sie ihm erst von dem
Kind, als das Kind tot ist. Dann schreibt sie ihm einen Brief, im Grunde ist das
ganze Buch nicht mehr als diese eine lange Epistel, in der sie ihm unter anderem
mitteilt, sie hoffe, dem toten Kind bald zu folgen, dass
sie nie einen anderen geliebt habe als ihn und sich aus Liebe zu ihm weggeworfen
habe. Auch so ein überholtes Konzept, Frauen, die sich wegwerfen. Ich hoffe, das beleidigt dich nicht, aber für mich ist das nicht
viel mehr als sentimentaler Quatsch.«
»Das beleidigt mich nicht«, antwortet Gwendolyne. »Vielleicht sind Sie
kein sorgfältiger Leser.«
»Wenn wir solche Texte ernst nehmen würden, müssten wir sie verbieten,
so anstößig finde ich diese schamlose Verherrlichung
des Todes, des Leidens und der Krankheit. Aber wir nehmen die Texte nicht ernst.
Sie sind heilige [537] Bücher einer Sekte, die ihren Glauben seit langem verloren hat,
aber die heiligen Bücher nebst dazugehörenden Ritualen nicht aufzugeben wagt, vermutlich
aus Angst vor der Leere. Hab ich auch nie verstanden, was daran so beängstigend
sein soll, aber okay. Doch was bedeuten diese heiligen Bücher ohne sinnstiftenden Glauben? Irgendwann wird man der harten Wahrheit ins
Auge sehen müssen, dass das Herz des Menschen an seinem Portemonnaie hängt. Und
weißt du, warum die Leute feuchte Augen bekommen, sobald von Glaube, Liebe, Hoffnung die Rede ist, während ihr Herz sicher in ihrer Gesäßtasche
steckt? Weil, und das haben viele Ökonomen übersehen, die Leute sich nichts sehnlicher
wünschen, als betrogen zu werden. Sobald Glaube, Liebe und Hoffnung ins Spiel kommen, wissen sie: Endlich, jetzt können
wir wieder betrogen werden, so eine Wohltat!«
Er weiß nicht, warum er sich so aufregt. Sie und Zweig haben wenig damit
zu tun.
»Kennst du Borowski?«, fragt er. »Tadeusz Borowski? Schriftsteller. Kein Literat. KZ -Überlebender.
In einem meiner Beiträge zu den Economic Origins zitiere
ich ihn in einer Fußnote. Wenn es dich interessiert, kann ich dir das Buch einmal
leihen, ich hab noch mindestens zwanzig Exemplare davon in einem Karton. Nach dem
Krieg hat Borowski den Kopf in den Gasofen gesteckt und seinem Leben ein Ende gemacht.
Wie auch immer, jedenfalls schrieb dieser Borowski: ›In der ganzen Menschheitsgeschichte
war die Hoffnung im Menschen nie stärker, aber nie hat
sie auch so viel Unheil angerichtet wie in diesem Krieg, wie in diesem Lager. Wir
haben nicht gelernt, der Hoffnung zu entsagen, [538] und
deshalb sterben wir im Gas.‹ Darum betrachte ich es als Wissenschaftler unter anderem als meine Aufgabe, die Hoffnung zu bekämpfen – ganz davon abgesehen, dass sie auch noch
falsch ist. Aber ich rede zu viel. Du bist neunzehn Jahre und vier Monate, was hast
du bis jetzt so alles erlebt?«
Der Bus fährt durch Dörfer, die für Roland eins aussehen wie das andere.
Der Bus ist mittlerweile fast leer.
Gwendolyne schaut ihn an. Warum sieht es nur immer so aus, als ob sie
ihm spöttische Blicke zuwerfen würde?
»Ich hab oft 0800-4999 angerufen«, sagt sie.
»Was ist das?«, fragt er.
»Eine Telefonnummer. Unter der kann man mit Männern reden. Man kann wählen
zwischen einem gemütlichen und einem geilen Gespräch. Ich habe ein kleines Zimmer,
wenn ich Leute einladen würde, würde das sehr schnell zu voll.«
Obersteins Blick geht zu den Bäumen. »Und wofür hast du dich meistens
entschieden?«, will er wissen. »Für ein ›gemütliches‹ oder für ein ›geiles‹ Gespräch?«
»Was meinen Sie?«, fragt Gwendolyne zurück.
Er beugt sich vor, nimmt ihr Gesicht in die Hände und küsst sie. Und
sie küsst ihn zurück, als gebe es nur ihn, als gebe es hiernach nichts anderes mehr.
So fühlt es sich an. Als wolle sie ihn fressen, verschlingen, mit Haut und Haaren.
[539] 31
Für eine Woche fliegt Jasons Frau
nach Europa, wegen ihres Buchs, hat sie ihm gesagt. Dieses Buch macht ihn noch verrückt.
Seine Frau sowieso, seit er Enrique kennt, ja, selbst Wähler gehen ihm in letzter
Zeit auf die Nerven, manchmal.
Da er nicht mehr ins Boulevard Motor Inn muss – jetzt kann
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