Mit Haut und Haaren
Risiken eingehen. Besonnenheit. Vorsicht.
Auch ein wichtiges Thema bei Smith.«
Roland wirft einen Blick in die Runde. Ein
Ort, sich aufzuhängen, so ein Stall.
Er geht auf sie zu, streichelt ihr übers Haar und fragt: »Wie komme ich
hier wieder weg?«
»Sie können den Bus mit mir nehmen.«
»Kannst du mir kein Taxi bestellen?«, fragt er. »Und vielleicht«, fügt
er hinzu, »könntest du mich jetzt Roland nennen.«
»Ich bleibe bei ›Sie‹, Meneer Oberstein«, antwortet [546] Gwenny. »Wenn’s
Ihnen nichts ausmacht. Ich hab auch noch Vorlesung bei Ihnen. Ich rufe Ihnen ein
Taxi.«
Er will sie küssen, doch er nimmt nur ihre Hand. »Ich werd dir meine
Nummer geben«, sagt er. »Wenn was ist, kannst du mich anrufen oder mir eine SMS schicken. SMS ist mir
eigentlich lieber. Und ich gehe mit dir zur Bushaltestelle. Lass das mit dem Taxi.
Ein bisschen frische Luft wird mir guttun.«
Schweigend gehen sie zum Bus. Als sie dort sind, meint Gwendolyne: »Ich
denke, Blondie hat Ihnen verziehen. Ich kenn sie ein bisschen.«
33
Violet sitzt bei Antoinette im Wohnzimmer. »Er wird schon gleich
kommen«, sagt Rolands Zimmerwirtin. »Er kommt mit dem Zug. Bei der Eisenbahn weiß
man ja nie. Möchtest du ein Glas Wein oder lieber ein Wasser?«
Violet nimmt ein Glas Wasser.
Antoinette setzt sich mit einem Weißwein zu ihr.
»Wir haben uns schon so oft gesehen, aber
noch nie richtig miteinander gesprochen. Du bist doch die Freundin von unserem Ökonomen?«
Die Worte »unserem Ökonomen« klingen Violet unangenehm in den Ohren,
aber sie sagt: »Ja, das stimmt.«
»Und womit beschäftigst du dich so?«, fragt
Antoinette.
»Ich entwerfe Taschen. Vor allem Damenhandtaschen.«
[547] »Wundervoll!«, ruft Antoinette. »Was für
ein gelungenes Tandem! Ein Ökonom und eine Putzmacherin!«
34
Im Zug nach Amsterdam schläft Roland
ein. Kurz nach Schiphol schreckt er auf. Er reibt sich über den Kopf. Aus seinem
Haar pult er ein Fitzelchen Stroh, das er auf den Boden wirft.
Oberstein schaut sich um, ob jemand es bemerkt hat, doch niemand scheint ihn zu
beachten.
Vom Hauptbahnhof aus geht er nach Hause.
In Antoinettes Wohnzimmer sitzt Violet. Antoinette sagt: »Deine Freundin
hat dich schon sehnsüchtig erwartet.« Er meint, einen bitteren Unterton in ihrer
Stimme zu hören, kaum verhohlene Feindschaft.
Ob auch auf Antoinette irgendwer sehnsüchtig wartet?
Wenn sie wieder einmal unter sich sind, möchte er ihr sagen: »Ich bin
nicht undurchschaubar.«
Violet geht ihm voraus auf sein Zimmer.
»Wonach riechst du?«, fragt sie.
»Nach intensiver Viehzucht«, sagt er. »Ich hatte heute eine praktische
Einführung in die niederländische Viehzucht anno 2009.«
»Viehzucht, beschäftigst
du dich damit jetzt auch?«
»Nein, wir hatten einen Ausflug mit der Studentenvereinigung.«
»Ich habe nachgedacht«, sagt sie, während er die [548] Zimmertür hinter
sich zumacht. »Du bist einundvierzig. Es wird Zeit, dass du eine eigene Wohnung
bekommst. Wollen wir nicht zusammenziehen? Sollen wir zusammen was kaufen?«
Oberstein setzt sich aufs Bett. Aus seinem Haar holt er noch etwas Stroh.
Was soll er sagen? Wenn sie ihm vorgeschlagen hätte, gemeinsam ein Selbstmordkommando
zu gründen, wäre er nicht weniger begeistert.
»Es gibt gute Gründe, sich auf dieser Welt nicht zu Hause zu fühlen.
Vielleicht ist das sogar ein moralischer Imperativ: Fühl dich nirgends zu Hause.
Bleib distanziert. Skeptisch. Deine Überzeugungen sind die Irrtümer von morgen.
Also um deine Frage zu beantworten: Ich finde es wunderbar,
so wie es ist. Mehr Zuhause als hier brauche ich nicht. Ich hoffe, du bist jetzt nicht enttäuscht. Vielleicht denke ich irgendwann
einmal anders darüber. Aber jetzt nicht. Ich kann keine …«
Sie reagiert nicht, wirbelt herum auf dem Bürostuhl, den Antoinette ihm
gegeben hat, weil er von dem, der zuerst im Zimmer stand, Rückenschmerzen bekam.
»Was bedeute ich dir?«, fragt sie. »Was bedeuten
dir Menschen?«
Wieder pult er sich einen Fitzel Stroh aus dem Haar.
»Ich bin kein völlig autarkes System«, sagt er nach längerem Schweigen.
»Ich brauche andere Menschen.«
Er würde sie von dem Schmerz, den er hier sieht, ja, förmlich zu spüren
meint, gerne befreien, weiß aber nicht, wie. Man müsste den Schmerz für alle Zeit
amputieren können.
[549] Fünf Minuten scheinen vergangen, als sie schließlich sagt: »In deinem
Haar ist noch Stroh.«
35
Bäuchlings liegt Gwenny auf ihrem Bett, in
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