Mit Haut und Haaren
Beziehungsproblemen. Violet mag keine Probleme.
Sie weiß, dass Menschen Probleme haben, sie selbst hat auch ab und zu welche, aber
die Probleme dürfen nicht zu lange dauern. Man kann süchtig nach ihnen werden, sie
kennt genug Leute, denen das so geht. Sie können über nichts anderes mehr reden
als über Das Problem. Mirjam zum Beispiel, eine ihrer
besten Freundinnen. Im zweiten Studienjahr verliebte sie sich in einen Dozenten,
fast vierzig Jahre älter als sie. Das kommt vor. Der Dozent verliebte sich auch
in sie, doch als bekennender Katholik behauptete er, sich auf keinen Fall von seiner
Frau scheiden lassen zu können. Einmal vögeln pro Woche hingegen war kein Problem.
»Mach Schluss mit ihm«, sagte Violet damals. »Noch ein Mal,
dann sag ich es ihm«, antwortete Mirjam jedes Mal. [75] Doch schließlich bekam der
Dozent Krebs. »Wie kann ich jetzt Schluss mit ihm machen?«, fragte sie nun. »Der
Mann hat Krebs.«
So geht das seit Jahren. Denn ebenso wenig wie zu einer Scheidung will
der Dozent sich zum Sterben entschließen. Violets Freundin ist süchtig, nicht nach
dem katholischen Dozenten, nicht einmal nach dem Vögeln, sondern nach Dem Problem. So etwas darf man erst gar nicht einreißen lassen.
Wenn Violet nichts zu tun hat, starrt sie aus dem Fenster und beobachtet
die Vögel. Sie will nicht den Rest ihres Lebens Taschen entwerfen, die in China
hergestellt werden. Irgendwann möchte sie einmal etwas entwerfen, das unter ihrem
Namen verkauft wird. Keine anonyme Massenware aus Asien.
Für den Moment findet sie ihren Job eine praktische Lösung.
Er lässt ihr viel Freiheit, die sie sinnvoll nutzt, wie ihr Chef sagt. Sie zeigt
Eigeninitiative. Obwohl der zweite Geschäftsführer bei
einem Mitarbeitergespräch einmal sagte: »Du hast deinen kleinen Dickkopf, aber das
macht uns nichts aus.«
Das klang ihr weniger angenehm in den Ohren.
Eine schöne Damenhandtasche hat immer etwas Ironisches. Über dieses Thema
kann sie stundenlang reden, einmal hat sie sogar schon eine Präsentation darüber
gehalten. Beim Übergang von der Funktion zur Ästhetik lauert in der Welt der Damenhandtasche
stets Ironie.
Die von ihr entworfenen Taschen stehen denen der großen Marken in nichts
nach, sind aber bezahlbar. In der Herstellung hakt es in China hin und wieder ein
wenig. Doch die kleinen Fehler erkennt man erst bei näherer Betrachtung.
[76] Die Frau des Chefs, die vier Tage pro Woche im Büro mitarbeitet, ist
etwas sauertöpfisch. Einmal hat sie Violet gefragt: »Wird
es für dich nicht langsam Zeit, mit deinem Freund zusammenzuziehen? So eine Fernbeziehung
ist doch was für Studenten!«
»Sie ist nur neidisch«, hat Roland dazu gesagt.
Doch neidisch worauf? Violet will daran nicht allzu viele Gedanken verschwenden.
Außerdem hat sie sich an die impertinenten Fragen der Frau des Chefs mittlerweile
gewöhnt.
Ihre eigene Tasche, die hinter ihr am Stuhl hängt, hat sie nicht selbst
entworfen. Sie stammt auch nicht aus China. Sie ist ein Geburtstagsgeschenk von
Roland.
Er ist schon ein Lieber.
Manchmal muss sie sich das nachdrücklich sagen: Er ist schon ein Lieber.
Doch so fühlt es sich nicht immer an. Etwas fehlt. »Was soll denn fehlen?«,
fragt er, wenn sie davon anfängt. »Und was heißt hier ›fühlen‹? Was fühlt da in
dir?«
Während sie gerade an einer Tasche mit Federn arbeitet, ein gewagtes
Modell, vor allem für dieses Marktsegment, klingelt in ihrer Handtasche das Mobiltelefon.
Sie war die Erste in der Firma mit einem iPhone. Insgeheim hält sie sich
darauf etwas zugute, obwohl es eigentlich keine Leistung ist.
Sie holt das Handy hervor und wirft einen
Blick auf ihre Kollegen. Links von ihr sitzt eine junge Frau, die von der Kunstakademie
kommt. Aus der Kunst wurde nichts, und jetzt entwirft auch
sie Taschen, Gürtel und Accessoires, die in China hergestellt werden. Doch verbittert
ist sie [77] deswegen nicht. »Es war eine schöne Zeit«, sagt sie, »drei Jahre lang
war ich Künstlerin, aber ich hab schnell gemerkt, dass ich damit nicht mein ganzes
Leben verbringen wollte. All diese Egomanen!«
Offiziell dürfen sie während der Arbeitszeit
nicht privat telefonieren.
Violets Taschen werden in ganz Europa verkauft,
manche sogar in Amerika. Es kommt vor, dass sie ein von ihr designtes Modell in
einem Laden stehen sieht, doch niemand weiß, dass es von ihr ist, und dann muss
sie sagen: »Schauen Sie, die Tasche dahinten, die habe ich entworfen.«
Erniedrigend ist das nicht, schade
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