Mit Haut und Haaren
den Mund.
Er steigt ein. Bevor er eins seiner Bücher herausholt, das er am Abend
durchhaben will, denkt er an die sanften, feuchten Augen
eines Pferdes.
[579] 4
Der Besitzer des Restaurants in der Utrechtsedwarsstraat serviert
das Essen persönlich. Er hat die Gewohnheit, ausführlich von all den Prominenten
zu erzählen, die in seinem Restaurant schon zu Gast waren.
»Ich finde ihn ziemlich mühsam«, sagt Violet. »Findest du nicht? Was
interessieren mich diese Leute?«
Roland nickt.
»Du bist mit den Gedanken schon wieder woanders«, sagt sie.
Er nimmt einen Bissen Pâté.
»Menschen haben Angst vor der Stille, darum reden sie immer. Auch wenn
es gar nichts zu sagen gibt. Dabei kann man doch auch einmal schweigen. So viel
gibt’s nicht zu sagen.«
»Und woran denkst du?«, fragt sie. »Wenn du so vor dich hin schweigst.
Woran denkst du gerade?«
»An ein wirtschaftswissenschaftliches Problem.«
»Vielleicht könntest du’s mir erklären. Vielleicht könntest du aufhören
zu denken, dass deine Arbeit mich nicht interessiert oder dass ich zu dumm dafür
bin.«
Am Nachmittag war sie beim Friseur. Bei einem Brasilianer, der sie fast
anderthalb Stunden bearbeitet hat.
»Ich denke an die Definition einer Blase«,
sagt er. »Was ist eine Blase? Eine Blase ist, wenn zum Beispiel der Preis eines
Rohstoffs erst rasend schnell steigt, um dann genauso
schnell wieder zu fallen. Lange hat man geglaubt, die Blasenbildung beruhe auf menschlicher
Irrationalität. Die [580] Leute hätten es besser wissen müssen, sie waren nicht bei
Trost, berauscht von der Habsucht und so weiter. Doch vielleicht liefern die verfügbaren
Informationen erst gute Gründe für eine rasante Preisentwicklung, worauf dann neue
Informationen oder andere Umstände dafür sorgen, dass der Preis wieder in den Keller
geht. Was eine Blase war, erkennen wir immer erst hinterher. Vorhersagen geht nicht.
Wenn wir das könnten, wären die meisten Ökonomen steinreich. Was auf den ersten
Blick irrational wirkt, ist in Wahrheit ein Problem der Informationsübermittlung
und -verarbeitung.«
Violet schaut ihren Freund an. Sie muss an ihre erste gemeinsame Reise
denken, nach Slowenien. Roland war dort auf einer wirtschaftswissenschaftlichen Tagung gewesen. Im Anschluss blieben sie noch ein
paar Tage in einem schönen alten Hotel an einem Fluss. Es hatte einen Swimmingpool.
Erst nach massiven Interventionen war es ihr gelungen, ihn zu ein paar Wettläufen
um den Pool zu bewegen.
Sie nimmt Meneer Bär aus der Tasche und setzt ihn auf einen leeren Stuhl
an ihrem Tisch.
»Interessant«, sagt sie. »Wirklich. Ich meine das nicht ironisch. Ich
finde es interessant, was du sagst. Aber bist du einverstanden,
wenn Meneer Bär mitisst?«
Roland lächelt. Er streckt die Hand nach dem Bären aus und streichelt
ihn.
»Die Informationsübermittlung verläuft also
nicht optimal?«, fragt sie.
»Nein, gar nicht. Und die Verarbeitung auch nicht. Kahneman hat den Nobelpreis
dafür bekommen, dass er gezeigt hat, wie subjektiv verzerrt die Verarbeitung von
Informationen verläuft.«
[581] Sie schiebt die Pâté beiseite. »Ich war heute Nachmittag beim Friseur«,
sagt sie.
»Schön«, antwortet er. »Er hat nicht viel abgeschnitten, aber es sieht
gut aus.«
Vergeblich versucht sie, ihr Gefühl von damals in Slowenien wieder heraufzubeschwören.
»Was ist eigentlich kein Spiel für dich?«, fragt sie.
Er denkt kurz nach.
»Der Tod. Beim Tod hört das Spiel auf.«
Der Besitzer räumt die Pâtételler ab. Zum Glück jetzt, ohne von Prominenten
zu sprechen.
»Dann spielen wir eben«, sagt sie. »Los – möchtest du Meneer Bär etwas
sagen? Zu ihm bist du immer so nett. Möchtest du mit ihm reden?«
Sie schaut zu dem Tier, das für andere Gäste kaum bemerkbar auf dem Stuhl
neben ihr sitzt.
Roland richtet sich ein wenig auf.
»Nun, dann möchte ich ihm Folgendes sagen: Der Gedanke mag religiös angehaucht
klingen, aber es ist doch sinnvoll, diese Welt und das Leben als ein Exil zu betrachten.
Diese Haltung führt zu Gelassenheit, spielerischer Distanz und einer selbstauferlegten
Zurückhaltung im Reden.«
Er nimmt eine Olive.
»Und folgt daraus auch, dass Menschen austauschbar sind?«, fragt sie.
Er spuckt den Kern aus.
»Als Wirtschaftswissenschaftler hat mich die Wünschbarkeit meiner Forschungsergebnisse
nicht zu interessieren, ich stehe über den Dingen. Ich kann mir nicht vorstellen,
dass ein ernsthafter Wissenschaftler
in seiner Freizeit [582]
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