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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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aus, dazu ist es zu kalt. Er streichelt sie.
    »Hast du in letzter Zeit noch die 0800-9444 angerufen?«, fragt er flüsternd.
    »0800-4999. Sie können sich die Nummer echt
nicht merken, was?«
    Er klammert sich an sie, als könne sie jeden Moment weglaufen.
    »Und was sagen die Männer dann immer?«, flüstert
er. »Wenn du mit ihnen telefonierst? Was wollen sie wissen?«
    »Immer dasselbe: Sie fragen, was ich anhabe. Und ich antworte immer dasselbe:
›Einen kurzen Rock.‹ Aber dann bin ich natürlich nicht Gwenny, dann bin ich Natascha.
Das fand ich einen guten Namen für ein durchtriebenes Luder. Finden Sie nicht?«
    »Ich weiß nicht, wie durchtriebene Luder heißen. Hatte keiner der Männer
ein intellektuelles Interesse? Wollten sie wirklich nur wissen, was du anhattest?«
    »Oh, sie interessierten sich noch für viel mehr«, antwortet Gwendolyne.
»Sie konnten nicht aufhören, mir Fragen zu stellen, aber wenn’s mir zu blöd wurde,
hab ich sie weggedrückt.«
    Einen Moment lang liegen sie einfach so da, in der Kälte, im stinkenden
Stroh.
    »Darf ich dich was fragen?«, will Oberstein wissen.
    »Was denn?«
    »Dürfte ich dir mit deiner Peitsche den Hintern [576]  versohlen?« Er zeigt
auf die Peitsche, die neben Gwendolynes Stiefeln an der Trennwand steht. »Nicht
fest natürlich. Nur ein bisschen.«
    Die Frage scheint sie kaum zu überraschen. Sie schaut erst die Peitsche
an und dann ihn.
    »Wenn’s Ihnen Spaß macht.«
    »Es macht mir Spaß.«
    Für einen Moment ist es still. »Aber dann lassen Sie uns auch ein Foto
machen«, sagt sie.
    »Warum musst du immer alles fotografieren?«
    »Für später, dann hab ich was zum Anschauen. Verstehen Sie?«
    Aus der Tasche holt sie ihren kleinen Fotoapparat und stellt ihn auf
einen Strohballen. Sie muss ihn ein bisschen justieren.
    »Kommen Sie hierher«, sagt sie, »sonst sind
Sie nicht im Bild.«
    Sie zeigt ihm, wie er sich hinstellen muss.
    Dann drückt sie ihm ihre Peitsche in die Hand, betätigt den Selbstauslöser
und legt sich schnell hin.
    »Hoffentlich klappt’s«,
ruft sie, »sonst machen wir’s noch mal.«
    Auf ihrer linken Pobacke bemerkt er ein einsames Muttermal, das ihn rührt.
    »Jetzt keine Fotos mehr«, sagt er.
    Als sie fertig sind, richtet sie mit dem Rücken zu ihm ihre Kleidung.
    »Eine komische Frage vielleicht, aber bin ich jetzt Ihre Geliebte?«,
fragt sie.
    Er nimmt seine Büchertüte vom Boden.
    [577]  »Meine Geliebte? Wieso? Ich denke nicht in solchen Kategorien.«
    Sie verlassen den Stall. Er hätte sich einen Schal mitnehmen sollen.
    »Sie haben doch eine Freundin?«
    »Das stimmt.«
    »Und weiß sie von uns?«
    »Nein.«
    »Und warum nicht?«
    Er reibt sich übers kalte Gesicht. An seiner Nase bildet sich ein Tropfen.
    »Weil ich niemandem weh tun will.«
    Kurz nimmt er ihre Hand, ein paar Meter gehen sie so, doch er spürt,
dass das unpassend ist, vielleicht schaut der Bauer gerade jetzt aus dem Haus, vor
dem Abendessen. Er lässt ihre Hand wieder los.
    »Ich weiß nicht, wie man es nennen soll«, sagt er, »aber nennen wir’s
Freundschaft. Das zwischen uns. Bist du damit zufrieden?«
    »Mit unserer Freundschaft? Na klar«, antwortet
sie.
    »Ich muss bald für drei Tage nach Lyon, zu einer Tagung über die Wirtschaftspolitik von Vichy. Hättest du Lust mitzukommen?«
    »Wann ist das?«
    Er nennt ein Datum.
    »Ich glaube, da könnt ich«, sagt sie. »Ich war noch nie in Lyon.«
    »Vielleicht kann ich dir dann endlich was über Wirtschaft beibringen. Liest du immer noch diesen romantischen Quatsch?
Ob Ökonomie eine exakte Wissenschaft [578]  ist, darüber kann man streiten, aber wenigstens ist es
eine, was man von Literatur nicht sagen kann.«
    »Ich weiß nicht, worauf Sie anspielen, aber ja: Ich lese noch Bücher.
Wenn ich nicht bei meinem Pferd oder bei meinen Freundinnen bin.«
    Sie stehen an der Bushaltestelle.
    »Ich warte noch, bis der Bus kommt«, sagt sie.
    Schweigend warten sie ein paar Minuten, dann fragt sie: »Haben Sie Die Brüder Karamasow gelesen?«
    Er schüttelt den Kopf. »Nein«, sagt er.
    »Darin kommt ein Gedicht über einen Bauern vor, der seinem Pferd mit
der Knute auf die sanften, feuchten Augen schlägt. An
das Gedicht muss ich oft denken, wenn ich Sie sehe. Oder
ein Pferd vor mir habe. Können Sie sich vorstellen, einem Pferd auf die sanften, feuchten Augen zu schlagen?«
    Oberstein schüttelt den Kopf. »Nein«, sagt er, »aber ich bin auch phantasielos.«
    Der Bus kommt.
    Hastig küsst er sie auf

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