Mit Haut und Haaren
die
vom Hirten in die richtige Richtung getrieben werden müssen, und sie andererseits
im entscheidenden Moment einfach im Stich lässt, weil zum Beispiel kein Geld für
Tutoren da ist und an allem Möglichen gespart wird. Und regelrecht demütigend finde ich es, dass ich von Pontius zu Pilatus laufen muss,
nur um zweihundert Kopien für meine Studenten machen zu dürfen. Zweihundert Kopien!«
Verkerk hat sich erhoben, das Gesicht puterrot. Für einen Moment fürchtet
Oberstein, er wolle sich auf ihn stürzen, [572] doch P.W.F.M. Verkerk schreit ihn nur
an: »Du wirst auf Universitätskosten überhaupt keine Kopien mehr machen. Nicht fünfzig
und auch nicht zwanzig! Dir haben wir es zu verdanken, wenn uns Saitotis Spende
durch die Lappen geht. Wenn er sein Geld nach Amsterdam trägt oder nach Utrecht
oder in die Vereinigten Staaten. Du bringst uns kein Geld, du kostest uns nur. Und
glaub mir, Oberstein, mein Arm ist länger, als dir lieb ist. Solange ich im Wissenschaftsbetrieb was zu sagen habe, kriegst du nirgends eine Professur.
Nirgends!«
Oberstein steht auf und verlässt grußlos den Raum.
Als er schon auf dem Flur ist, ruft ihm Verkerk
hinterher: »Oberstein, hier und heute hast du deine wissenschaftliche Karriere zu Grabe getragen!«
2
»So kann das nicht weitergehen«, sagt Mevrouw Oberstein zu
dem alten Mann an ihrem Esstisch. »Ich muss an mich selber denken, außer mir tut
das ja keiner!«
Sie hält ihm ein Glas frischgepressten Grapefruitsaft hin und schiebt ihm den Strohhalm zwischen die Lippen.
Mevrouw Oberstein weiß, dass der alte Mann kein Niederländisch versteht.
Ab und zu sagt er etwas auf Polnisch, was wiederum sie nicht versteht, darum fühlt
sie sich berechtigt, ihrerseits Niederländisch mit ihm zu sprechen, obwohl sie ihm
regelmäßig auch auf Deutsch Standpauken hält.
[573] »Mein Sohn will dich aus dem Weg räumen«, sagt sie, während sie ihm
den Strohhalm tiefer in den Mund schiebt, »darum behalt ich dich vorläufig hier.«
3
Sie sitzen im Überlandbus. Es ist das dritte Mal, dass Roland
mit Gwendolyne auf den Bauernhof fährt. Gwendolyne hat einen Fotoapparat in der
Hand.
»Was soll das?«, fragt Oberstein.
»Ich nehm ein Video auf«, antwortet sie.
»Gehst du ein bisschen diskret damit um?«, fragt er.
Sie trägt eine lange graue Jacke. Um das linke Handgelenk hat sie ein
Haargummi. Sie hat ihre Reitsachen dabei.
Von der Bushaltestelle sind es ungefähr fünf Minuten zu Fuß bis zu den
Pferden. Er hat sich mit dem Dreck abgefunden, notgedrungen.
Während sie gehen, berührt Oberstein ab und zu Gwendolynes Rücken.
»Blondie hört mich immer schon von weitem«, sagt sie. »Dann fängt sie
an zu wiehern.«
Oberstein hört verschiedene Pferde. Er kann ihr Wiehern nicht auseinanderhalten,
doch das sagt er nicht.
»Wer sorgt eigentlich für dein Pferd, wenn
du nicht da bist?«
»Der Bauer«, sagt sie, »aber für den sind Tiere mehr Mittel zum Zweck.
Zum Glück bin ich meistens da.«
[574] Im Stall geht sie zu ihrem Pferd. Sie nimmt seinen Kopf in beide Hände,
scheint mit ihm zu sprechen.
Oberstein schaut aus sicherer Entfernung zu.
Als sie mit ihrer Begrüßung fertig ist, fragt Gwendolyne: »Wollen Sie
Blondie nicht Guten Tag sagen?«
»Später«, antwortet Oberstein.
Sie gehen in die leerstehende Box. Er dachte, er hätte sich an den Gestank
gewöhnt.
»Nachher bringe ich Sie zur Bushaltestelle«, sagt Gwendolyne, »aber ich
steig nicht mit ein, ich will noch ein bisschen reiten.«
»Okay«, sagt er.
»Wenn ich mit dem Pferd draußen bin, reite ich immer ohne Helm. Dem Bauern
gefällt das nicht«, meint sie. »›Wenn was passiert‹, sagt er immer, ›bin ich verantwortlich.‹
Aber ich lasse mir so gern den Wind um die Ohren wehen.«
Oberstein legt seine Plastiktüte auf den Boden und zieht den Mantel aus.
»Ohne Helm, ist das so wie ohne Kondom?«
»So ähnlich«, sagt sie. »Und auch wieder nicht.«
Sie nimmt das Haargummi vom Handgelenk und bindet sich einen Pferdeschwanz.
Er zieht sie an sich.
»Du riechst gut«, sagt er.
Sanft beißt er sie ins Ohrläppchen. Er presst
sie an sich, spürt ihre Wärme, drückt sie so lange, bis er aufhört zu zittern.
»Wie still dein Pferd heute ist.«
»Blondie ist irgendwie krank«, sagt Gwendolyne. »Ich [575] schau noch ein
paar Tage zu, aber wenn sich’s nicht bessert, ruf ich den Tierarzt.«
Sie legen sich auf den Boden, dorthin, wo am meisten Stroh liegt. Sie
ziehen sich nicht vollständig
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