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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnon Grünberg
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 für eine Ideologie trommelt. Seine wissenschaftliche Arbeit würde darunter leiden. Um also Meneer Bärs Frage
zu beantworten: Ja, ich denke, Menschen sind austauschbar.
Alle Tatsachen weisen in diese Richtung, ja mehr noch: Ich denke, die Menschen sollten
sich an den Gedanken ihrer Austauschbarkeit auf allen Gebieten gewöhnen. Aber es
ist natürlich die Frage, ob man noch über den Dingen stehen kann, wenn man selbst
austauschbar ist.«
    »Und Meneer Bär«, fragt sie. »Ist der auch
austauschbar?«
    Roland beugt sich ein wenig über den Tisch und schaut Meneer Bär an.
Sie sieht, er nimmt das Spiel ernst, wie immer.
    Er lehnt sich wieder zurück.
    Roland öffnet den Mund, als wolle er etwas
sagen, doch kein Laut kommt heraus. Erst eine Weile darauf folgen die Worte: »Vielleicht
nicht, vielleicht hat er etwas, was uns fehlt.«
    Sie nimmt seine Hand.
    »Deine Hand ist kalt«, sagt er.
    »Dann wärm sie mir doch.«
    Einen Moment lang hat sie den Eindruck, dass er das Gleiche empfindet wie sie, einen Moment lang scheint er etwas zu fühlen.
    [583]  5
    Gwenny sieht einen Film auf YouTube, den ein Freund von ihr
dort hineingestellt hat: Es zeigt ihn im Musical Der Mann von
La Mancha. Er ist Don Quijote. Sancho Panza wird von einer Frau gespielt,
die keine Stimme hat. Vier Kinder um die zwölf Jahre spielen das Pferd und den Esel.
Gwenny mag Musicals.
    Nachdem sie den Film dreieinhalb Mal gesehen hat, lädt sie ein Video
mit ihrem Pferd hoch.
    Sie schließt das Notebook und schickt dem Freund, der den Don Quijote
gespielt hat, eine SMS .
    Dann nimmt sie ein Kleid aus dem Schrank, zieht es an und mustert sich
kritisch in ihrem kleinen Spiegel. Ihr Zimmer ist so winzig, dass ein Teil ihrer
Kleidung bei den Eltern im Schlafzimmer hängt. Was sie hier hat, ist ein Sommerkleid,
doch das macht nichts.
    Als sie sich zu Ende begutachtet hat, setzt sie sich aufs Bett und nimmt
das Buch von Stefan Zweig vom Schreibtisch.
    »Aber glaube mir«, liest sie, »niemand hat Dich so sklavisch, so hündisch,
so hingebungsvoll geliebt wie dieses Wesen, das ich war und das ich für Dich immer
geblieben bin, denn nichts auf Erden gleicht der unbemerkten Liebe eines Kindes
aus dem Dunkel, weil sie so hoffnungslos, so dienend,
so unterwürfig, so lauernd und leidenschaftlich ist, wie niemals die begehrende und unbewußt doch fordernde
Liebe einer erwachsenen Frau.«
    Sie hat das Buch zufällig entdeckt, in der Schule. Zu [584]  ihren Fächern
gehörte Deutsch, und sie suchte ein dünnes Buch für ihr Literaturreferat, doch dann
verliebte sie sich in den Text.
    Sie hat vergessen, was »lauern« bedeutet, sie müsste es nachschlagen,
doch sie ist zu faul dazu. »Anstarren«, denkt sie, doch das ist unlogisch. Liebe
kann doch nicht »anstarrend« sein?
    Ihr Handy klingelt. Eine SMS von Lieke:
»Bin zu einer Tupperwareparty für Sexspielzeug eingeladen«, schreibt sie. »Dienstag,
21. April. Kommst du auch?«
    Gwenny antwortet: »Ja!!!!! PS: Jetzt hast
du die Wette endgültig verloren.«
    6
    Mitten in der Nacht schreckt Sylvie aus dem Schlaf: Jonathan
schreit. Er sitzt aufrecht im Bett.
    »Was ist denn?«, fragt sie.
    »Ich hab von einem Orca geträumt.«
    »Das darfst du nicht machen«, sagt sie. »Träum von was anderem!«
    Sylvie nimmt ihr Handy, um zu sehen, wie spät es ist. Sie hat eine SMS von Lysander bekommen.
    »Wo bist du?«, schreibt er. Mehr nicht.
    Danach kann sie nicht mehr schlafen.
    [585]  7
    Der Flug nach Lyon war kurz, aber turbulent. In der Ankunftshalle steht eine Dame mit einem Schild: »R. Oberstein«.
    Darauf war er nicht vorbereitet, in der Vorabinformation hatte, wenn
er sich richtig erinnert, nichts davon gestanden. Er stellt Gwendolyne vor als mon assistente , doch die Dame von der Organisation schenkt dem,
was er sagt, wenig Beachtung.
    Mit ihm und Gwendolyne geht sie zum Parkplatz, wo ihr kleines Auto steht.
    Gwendolyne hat kaum Gepäck.
    »Ist das alles?«, hat er sie auf Schiphol gefragt und auf ihre Tasche
gezeigt. Dieselbe Ledertasche, die sie auch in der Universität immer benutzt.
    »Wer setzt sich neben mich?«, fragt die Dame.
    Oberstein nimmt neben ihr Platz.
    Während der Fahrt vom Flughafen gibt die Frau ihnen eine kurze Einführung
in die Geschichte der Stadt und endet mit den Worten: »Es ist nicht Paris, aber
trotzdem sehr schön.«
    Als sie am Hotel in der Innenstadt ankommen, meint die Dame: »Dass Sie
mit einer Assistentin anreisen, trifft uns ein wenig
unvorbereitet!«
    »Kein Problem«,

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